Schattengefährte
Körper, bedeckte sie ganz und gar mit angenehmer Kühle, und die Ruhe, die sie nun umschloss, war wie eine sanfte, tröstende Umarmung.
Kapitel 10
Wo Liebe flieht, wächst graues Eis
Im Frost erblüht kein frisches Reis.
Wo Liebe lügt, erstirbt das Licht
Das Dunkel siegt, das Starke bricht.
Wo Liebe lebt, da grünt der Mai
Und Frühling webt das Leben neu.
Es war dämmrig in dem kreisrunden Turmgemach, nur zwei enge Fensterluken ließen ein wenig Licht ein, doch sie lagen so hoch, dass Alina nur die schmalen Streifen Himmelsblau sehen konnte. Tagsüber warf die Sonne einen goldfarbigen Lichtschleier durch eine der Luken, er wanderte schräg durch den oberen Teil des Raumes, ließ die kleinen Einschlüsse in den dunklen Mauersteinen aufblitzen und schwand am Abend dahin, ohne je in ihre Reichweite zu gelangen. Die zweite Luke ging nach Norden, von dort kam niemals ein Sonnenstrahl.
Nur in der Nacht, wenn die Turmwächter keinen Dienst taten, war es ihr erlaubt, zu der zinnenbewehrten Plattform ganz oben an der Turmspitze hinaufzusteigen, um für einige Stunden frische Luft zu atmen. Dann saß sie auf dem Steinboden, lehnte den Rücken an die Mauer und starrte in den gestirnten Nachthimmel. Sanft sah der Mond auf sie herab und schenkte ihr sein weißes Licht, und das Volk der Sterne schien sich blinkend und flimmernd über sie zu unterhalten, lachte ihr zu und wollte sie aufheitern.
Alina war einsam und unglücklich wie nie zuvor in ihrem Leben. Jetzt endlich begriff sie Nessas böse Anspielungen – sie, Alina, war eine Fremde in dieser Burg. König Angus war ihr Vater, doch eine Fee hatte sie geboren. Sie war Etains Tochter.
Ein Bastard. Ein Wechselbalg. Ein Feenkind. Alle hatten es gewusst, nur ihr selbst hatte man die Wahrheit verschwiegen.
Man hatte sie bei der Quelle gefunden, erschöpft, in tiefem Schlaf und völlig durchnässt. Die ganze Burg, vom Kerker bis hinauf in den Turm, hatte man nach ihr durchsucht, auch die Ställe, Scheunen und Werkstätten durchwühlt, sogar den Hühnerstall und den Schweinepfuhl. Später waren die Ritter und Knechte ihres Vaters ausgeschwärmt, um die Königstocher in der Umgebung zu suchen, und es war ausgerechnet Nemed, der sie bei der Quelle entdeckte. Seine Freude war außerordentlich, er zwang sie, vor ihm auf seinem Pferd zu sitzen, und legte ihr beide Arme um die Taille. Auch flüsterte er ihr ins Ohr, dass sie bezaubernd schön sei in diesem nassen Gewand, denn es lege sich eng um ihren Leib und lasse ihre Reize offenbar werden. Er, Nemed, sei begierig darauf, sie zur Frau zu nehmen. Schon – und dabei ließ er die Hand frech durch ihr offenes Haar gleiten, – schon wegen dieses köstlichen, glänzenden Schmucks, den man gewiss abschneiden, zu kleinen Bündeln binden und als Nachtlicht in die Kammern hängen könne.
Ihren Vater hatte sie nicht zu sehen bekommen. Kaum waren sie in den Burghof eingeritten, da erschien ein Page mit dem königlichen Befehl: Alina sei in die Turmkammer zu sperren. Nessa stand am Fenster ihres Wohngemachs und blickte zufrieden lächelnd in den Hof hinunter, nickte ihrem Bruder zu und fauchte dann die Frauen an, die ihr über die Schulter schauen wollten.
»Sie werden dir das Haar abschneiden, deine weiße Haut schwärzen und dir die Augen ausstechen, Wechselbalg«, rief sie dann nach unten. »Wie gefällt dir das?«
Nichts dergleichen war bisher geschehen, es war einfach nur eine gemeine Lüge gewesen, um sie einzuschüchtern. Doch auch sonst geschah nichts – Tage und Wochen vergingen, ohne dass ihr Vater sie zu sich rufen ließ, er schien sie vollkommen vergessen zu haben.
Alles dies war schlimm genug, doch es hätte sie nicht zu Boden gedrückt. Was sie jedoch schier verzweifeln ließ, war die Sorge um Fandur. Umsonst wartete sie auf ihn in den langen Nächten oben auf der Plattform des Turms. Er besuchte sie nicht mehr, weder in seiner Rabengestalt noch in seiner menschlichen Erscheinung. Ihr Gefährte war verschwunden, und sie verging fast vor Kummer. Hatte er nicht davon gesprochen, Verbotenes getan zu haben? Blieb er fern, weil auch er eine Strafe erleiden musste? Doch wer konnte einen Rabenkrieger wohl strafen? Sie wusste es nicht, erst jetzt wurde ihr klar, wie wenig er von sich selbst preisgegeben hatte.
Wenn er litt, dann war es nur ihretwegen. Weshalb hatte sie ihn zu dieser unseligen, letzten Reise überredet? Er hatte sie gewarnt, von Gefahr gesprochen, auch wandte er ein, dass es zu spät in der Nacht sei.
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