Schattengefährte
Plötzlich erlosch das silbrige Licht, die weißen Mauern und Türme wurden durchsichtig und lösten sich in Schwärze auf, die düstere Ebene kam hervor, im Licht des Mondes schienen die toten Bäume wie mit Glas überzogen.
Sie presste sich an ihren Gefährten, umschlang ihn mit Armen und Beinen und versuchte, so tief wie möglich in das flaumige Gefieder einzutauchen. Pfeilschnell war jetzt sein Flug, nur wenige, kräftige Flügelschläge trugen ihn unter die Wolkendecke in die eisige Dunkelheit, und die Kälte, die von den schneebedeckten Bergen zu ihnen aufstieg, nahm Alina fast den Atem. Doch dieses Mal war der Wind mit ihnen, peitschte von rückwärts auf sie ein, bauschte Alinas Kleid mit eisigem Hauch und griff unter die Schwingen des Raben. So heftig trieb sie der Sturm über das Gebirge, dass man hätte glauben können, er wollte die Eindringlinge so rasch wie möglich aus seinem kalten Reich hinaustreiben.
Graues Licht überfiel sie, als sie die Düsternis hinter sich gelassen hatten. Der Mond hatte seine Bahn vollendet, die Sterne waren erloschen, durch die zerrissene Wolkendecke brach der matte Schein des erwachenden Tages. Fandur strebte mit mächtigen Schwingen voran, schwarz glitt sein Flugschatten über die Hügel, die schon langsam ihre grüne Farbe gewannen, im Wald erklang der warnende Ruf des Hähers. Alina erwachte jetzt aus ihrer Versunkenheit, denn sie spürte, wie rasch Fandurs Herz schlug. Es war spät – gleich würde die Sonne aufgehen, dann kam Macha in ihr Gemach, um sie zu wecken. Was würde sie sagen, wenn sie das Bett ihres Schützlings leer und die Fenster weit offen fand?
»Sei ohne Sorge«, hörte sie Fandurs leise Stimme.
Die Burg ihres Vaters lag im Morgenlicht, glühte in den roten Strahlen der aufgehenden Sonne, als brenne dort ein Feuer. Raben umschwärmten den klobigen, runden Turm, zankten sich, hackten aufeinander ein und trieben kunstvolle Flugkapriolen. Plötzlich jedoch, als habe jemand eine Parole ausgegeben, sammelte sich das kreischende Rabenvolk zu einem Schwarm, stieg wie eine dunkle Wolke in die Luft hinauf und hielt genau auf sie zu.
Sie hörte, wie Fandur ein leises Zischen ausstieß, mit einer ruckartigen Bewegung änderte er die Richtung, zog einen Bogen, und sie spürte, wie sein Herz raste.
»Was ist los? Wollen sie … uns jagen?«
Er gab keine Antwort, flatterte mal in diese, mal in jene Richtung, als wisse er nicht, was zu tun war. Dann stieß er tief hinab, glitt dicht über den Hügeln dahin, als wolle er die Verfolger narren und sich in einem der kleinen Wäldchen vor ihnen verbergen.
Sie waren zu flink. Auch sie waren geschickte Flieger, dazu waren sie ausgeruht und voller Gier, sie näherten sich mit der Geschwindigkeit des Windes. Fandur konnte ihnen nicht entkommen, er wusste es, und dennoch wollte er sich nicht ergeben, mit schwindenden Kräften flatterte er über den Wiesen dahin, seinem Ziel entgegen. Seine Schwingen streiften die Baumwipfel, tiefer senkte er sich hinab, berührte mit den Füßen die niedrige Mauer, deren weiße Quader von rankendem Efeu gehalten wurden. Dort sank er auf den Boden herab.
»Verbirg dich. Rasch. Die Quelle wird dich schützen.«
»Und was ist mit dir?«, rief sie verzweifelt.
Er schüttelte zornig das Gefieder, denn Alina wollte ihn nicht loslassen. Erst als er die Schwingen zu Hilfe nahm und das Mädchen mit Gewalt von seinem Rücken streifte, fiel sie unsanft auf den Boden.
»Leb wohl, Feenkind«, sagte er atemlos. »Wir haben Verbotenes getan, und wir werden dafür leiden müssen. Doch vergiss dein Versprechen nicht. Du schuldest mir deine Augen.«
Mit einem kräftigen Ruck stieß er sich vom Boden ab, flatterte mühsam, um Höhe zu gewinnen, und war gleich darauf in die Haselbüsche eingetaucht.
»Fandur! Lass mich nicht allein!«
Über ihr war zorniges Gekrächze, zahllose schwarze Flugschatten kreisten über der Quelle, die gefransten Flügel geschickt in den Wind gerichtet, und es schien ihr, als riefen sie sich mit schnarrenden Tönen zu, wo die Beute zu finden war. Angstvoll schützte sie das Gesicht mit den Armen, als die ersten Raben auf sie herabstießen, doch zu ihrer Verwunderung spürte sie keinen Schmerz, nicht einmal eine Berührung. Das Murmeln der Quelle dicht neben ihr war zu einem ohrenbetäubenden Brausen angewachsen, so bedrohlich war das Geräusch, dass sich selbst die angriffslustigen Raben davor fürchteten. Ihr war, als stiege das Wasser im Becken an und benetzte ihren
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