Schattengefährte
zu erkennen, dass er ihr einen boshaften Streich gespielt hatte. Oh, wie gemein er war. Aus Ärger über ihr beharrliches Drängen entführte er sie in diese grausige, tote Landschaft, und jetzt machte er sich noch über sie lustig.
»Schau nach unten, meine schöne Herrin!«
»Was für ein gelungener Witz, Rabe«, fauchte sie in sein Federkleid hinein. »Bring mich wieder zurück in die Burg – ich habe genug von diesem Ausflug.«
»Schau nach unten«, wiederholte er geduldig, wenn auch mit belustigtem Unterton. »Tust du es nicht, ist die Gelegenheit vorbei.«
»Ich habe genug gesehen!«
»Nichts bleibt wie es ist, alles ist im Wandel. Schön wird hässlich, Wärme wird Frost, grünes Laub vergeht, und Wasser wird zu Eis. Nur der Traum hält Vergangenes fest …«
Ärgerlich hob sie den Kopf und schob sich ein wenig nach vorn, um ihm eine passende Antwort zu geben. Dann jedoch gingen ihr die Augen über.
Der Mond schien aus purem Silber zu sein, wie zarte, glitzernde Schleier fielen seine Strahlen auf die weiße Burg und ließen sie leuchten wie ein kostbares Bergkristall. Zierlich reckten sich die schlanken Türme auf, mit reich verzierten Fensterbögen schmückte sich der Palas, grünes Blattwerk umrankte kleine Erker, in deren Fenstern sanftes, farbiges Licht leuchtete.
»Nun«, fragte er leise. »Habe ich zu viel versprochen?«
Sie konnte nicht antworten, denn sie war ganz und gar mit Schauen beschäftigt. Die weiße Burg stand inmitten eines blühenden Gartens, Lorbeer und Haselbüsche, hohe, uralte Bäume wuchsen in saftigem Gras, rote und blaue Blumen öffneten sich dem Mondstrahl, schienen ihm süßen Duft entgegenzusenden. Und dort war auch der Brunnen. In einer flachen Marmorschale sammelte sich Quellwasser, das aus einem Fels tropfte, und der Mond gab der Oberfläche des Wassers silbrigen Glanz.
Im Hof der Burg war Leben. Sie erblickte Frauen und Kinder, die seltsam schwebende Sprünge vollführten und mit einem Ball spielten, dazu Knechte in hellgrünen Gewändern und Mägde, deren Kleider dem Blattwerk des Waldes ähnelten. Als nun eine Gruppe Berittener die Burg verließ, staunte sie über die seltsam geformte Wehr, die den Männern direkt auf den Leib gepasst zu sein schien, als sei sie nicht aus Eisen geschmiedet, sondern aus einem fremden graugrünen Stoff genäht. Die Ritter trugen schmale, spitz zulaufende Schwerter, und an ihren Sätteln hingen Bögen, deren Sehnen wie gedrehte Goldfäden glitzerten. Weiß wie das Mondlicht waren ihre Pferde, nie hatte sie schönere Tiere gesehen, ihre langen Mähnen flatterten im Wind wie seidiges Frauenhaar. Das Wunderbarste an all diesen Wesen war jedoch der Schimmer, den sie mit sich trugen und der aus ihrem Haar und ihrer weißen Haut zu dringen schien.
»Das ist die Burg des Feenkönigs, die vor Jahr und Tag an diesem Ort gestanden hat«, hörte sie Fandurs leise, warme Stimme. »Groß und mächtig war damals sein Reich, und diese kahle Ebene war mit dichten Wäldern und blühenden Wiesen bedeckt. Doch seine Macht ist dahin, und dies alles ist ein Traumbild aus vergangener Zeit. Kein Mensch kann es sehen, nur wir Zwischenwesen wissen Träume zu lebendigen Bildern zu erwecken.«
Sie hatte sich so weit vorgereckt, dass sie fast das Gleichgewicht verlor, und Fandur vollführte eine rasche Flugwendung, um sie vor dem Sturz zu bewahren.
»Nur die Zwischenwesen können diese Dinge erblicken?«, fragte sie zweifelnd, während sie sich vorsichtshalber wieder fest an sein Federkleid anklammerte. »Und wieso kann ich es sehen?«
»Weil du ein Feenkind bist, Alina.«
»Ich? Ein Feenkind …«
»Natürlich«, sagte er ärgerlich, so als habe er eigentlich erwartet, sie müsse es längst wissen. »Etain, deine Mutter, war die Tochter des Feenkönigs Mirdir. Hat dir das niemand gesagt?«
»Nein«, gab sie tonlos zurück, denn die Stimme versagte ihr.
Ein bunter Wirbel entstand in ihrem Kopf, alles, was ihr bisher so unverständlich gewesen war, fügte sich nun zusammen. Sie war Etains Tochter. Das Kind einer Fee. Deshalb leuchtete ihr Haar, ihre Haut war rein und wie Silber, ihre Augen …
»Halt dich gut fest, wir müssen uns sputen«, rief Fandur. »Es ist spät – der Morgen graut!«
»Weshalb können wir nicht hier bleiben?«, seufzte sie. »Einen schöneren Ort gibt es nirgendwo auf der Welt …«
»Es ist ein Bild aus der Vergangenheit, Alina. Es zerfällt im gleichen Augenblick, da der Finger der Zeit es berührt.«
Er hatte Recht.
Weitere Kostenlose Bücher