Schattengefährte
Doch sie war stur geblieben, hatte ihn listig herausgefordert und ihn so in sein Verderben gelockt.
Würde sie jemals wieder seine warme, tiefe Stimme vernehmen? Sich an seinen gefiederten Rücken schmiegen und über das nächtliche Land fliegen? Seine dunklen Augen aufblitzen sehen, seine Hände spüren, seine Lippen …
Wo Liebe flieht
Wächst graues Eis
Im Frost erblüht
Kein grünes Reis …
Sie hatte dieses Lied im Kopf, seitdem sie bewusstlos an der Quelle zurückgeblieben war. Ein Feenlied musste es sein, so wie auch alle anderen Lieder, die sie dort gehört hatte. Gewiss war diese Quelle Heimat der Feen, jener wenigen, die noch hier zurückgeblieben waren. Fandur hatte sie an diesen Ort gebracht, weil er wusste, dass sie dort Schutz finden würde. Wenn sie doch nur an die Quelle zurückkehren könnte, vielleicht hätte sie dort etwas über Fandurs Schicksal erfahren. Doch sie war hier in diesem finsteren Turm eingesperrt, dessen Mauern so dick waren, dass man kaum etwas vom Leben in der Burg hörte. Und wer versuchen wollte, von der zinnenbewehrten, runden Plattform herabzuspringen, der würde sich unweigerlich zu Tode stürzen.
Mit einem kleinen Steinchen kratzte sie für jeden vergangenen Tag einen Strich in die Mauer, es war nicht schwer, denn die Steine waren mit einer dunklen Schicht überzogen, die durch die Feuchtigkeit entstanden war. Tapfer kämpfte sie gegen die Verzweiflung an, die sie immer wieder überwältigen wollte. Hatte ihr Vater tatsächlich vor, sie für ewig in dieses enge Gefängnis einzuschließen? War seine Liebe zu ihr ganz und gar gestorben? Das wollte sie nicht glauben. In den ersten Tagen hatte sie versucht, die Magd auszuhorchen, die ihr jeden Morgen das kärgliche Mahl brachte. Doch sie war eine von Nessas Mägden und hatte den Befehl erhalten, auf keine Frage zu antworten. Schweigend und mit unbeweglicher Miene stellte sie Krug und Holzteller auf den Boden, nahm das Geschirr vom Vortag mit und ging hinaus. Hinter ihr schlug die Pforte zu, knirschend drehte sich der Schlüssel im Schloss, dann war die Gefangene wieder allein. Kein Schmeicheln half, auch kein Schelten, als Alina zornig wurde und zu toben begann, lief die Magd hinaus und blieb zwei ganze Tage fort. Danach gab Alina es auf – sie begegnete der Frau fortan mit Gleichgültigkeit. Wenn Nessa glaubte, sie zermürben und in den Wahnsinn treiben zu können, dann hatte sie sich getäuscht. Sie war Etains Tochter, und sie kannte die Lieder der Feen. Auch wenn die meisten davon traurig waren, so gaben sie ihr doch den Trost, nicht ganz allein zu sein. In ihren Träumen erblickte sie die weiße Burg in all ihrer Schönheit, dort war ihre Heimat und niemand – auch nicht Nessa – konnte sie ihr nehmen. Fandur hatte ihr dieses Wissen geschenkt, Fandur, der Rabenkrieger, der Mann, den sie liebte. Ihre Sehnsucht nach ihm würde niemals aufhören, gleich wo er sich befand, sie gehörte zu ihm, kein anderer würde je ihr Herz besitzen.
Mehr als vier Wochen waren vergangen, als die Pforte ihres Gefängnisses schon am Nachmittag geöffnet wurde. Es war Fergus, Machas Bruder, der mit verschmitztem Grinsen zu ihr eintrat, und in ihrer Freude, endlich ein bekanntes, liebes Gesicht zu sehen, wäre sie ihm fast um den Hals gefallen.
»Ich habe einen der Turmwächter beschwatzt, mit mir den Dienst zu tauschen«, erklärte er. »Bis zum Abend werde ich oben auf der Plattform stehen, und wenn Ihr wollt, Herrin, dann kommt mit mir. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr Sehnsucht nach Sonne und Licht habt.«
Sein Grinsen war jetzt einem mitleidigen Ausdruck gewichen, denn das Gewand der Königstochter war schmutzig und zerrissen, ihr Haar ungekämmt und die Augen dunkel umschattet. Er ließ den Blick über den kleinen Raum schweifen, besah das Lager der Gefangenen, das aus einer einzigen wollenen Decke bestand, die Spinnweben, die von der Gewölbedecke herabhingen, und er schüttelte den Kopf.
»Schämen sollte er sich, sein eigenes Kind in dieses Loch zu sperren!«
Er drehte sich zornig um und stieg den engen Aufgang zur Plattfort hinauf. Alina folgte ihm, sorgsam darauf bedacht, sich oben hinter den Zinnen zu verbergen, damit niemand sie vom Burghof her sehen konnte. Lärm traf ihre Ohren, ein Gemenge von meist jugendlichen Stimmen, das Klappern von hölzernen Stangen, die aufeinandergeschlagen wurden, auch der Klang von Schwertern.
Sie musste blinzeln, als das helle Tageslicht sie traf, denn sie hatte allzu lange in der
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