Schattengeschichten
das wirklich geschah, was ich glaubte zu sehen. Vielleicht war es nur ein Traum. Vielleicht habe ich es mir eingebildet. Ich stütze meinen Kopf in eine Hand und starre aus dem Fenster.
„Wo fahren wir eigentlich hin?“ frage ich nach einer Weile.
„Es gibt da jemanden, dem ich versprochen habe, ihn sofort nach mir zu befreien. Sie wartet schon in ihrer Wohnung.“
„John?“ frage ich.
Er dreht seinen Kopf zu mir und erst jetzt sehe ich das Muttermal auf der falschen Seite seines Gesichts.
„Nicht ganz“, antwortet er mir, „Du hast es gar nicht mitgekriegt, was, Laslo?“
Nein, denke ich, das ging mir zu schnell. Und ich ärgere mich, dass ich die Stille unterbrach. Denn schon wirkt das Szenario wieder echt.
„Du glaubst das nicht, oder?“ fragt er, „Du glaubst nicht, was du gesehen hast? Das ist verständlich. Wenn ich du wäre, ich würde es auch nicht glauben. Aber wir, Laslo, sind dir sehr dankbar.“
„Du...“, stammele ich, „Du bist das...“
„Spiegelbild? Klar. Oder war John schon immer Linkshänder? Mann, dass du so schwer von Begriff sein würdest, hätte ich dir ja nicht zugetraut.“
„Aber wie?“
„Du gabst ihm deine Fähigkeit, als du ihn festgehalten hast. John war in der Lage uns zu realisieren und damit öffnete sich das Tor.“ Spiegel-John schüttelt den Kopf. „Dass ich dir das erklären müsste, hätte ich echt nicht gedacht.“
„Welche Fähigkeit habe ich denn?“
Er lacht.
„Uns als das zu erkennen, was wir wirklich sind.“
Okay, und jetzt denken Sie, ich bin schon in der Irrenanstalt und erzähle diese Geschichte von dort. Aber nein, verehrter Zeitzeuge, ich möchte es ja selbst nicht glauben.
Spiegel-John fährt den Wagen in ein Parkhaus und fordert mich auf, mit ihm auszusteigen. Wir verstecken uns hinter einem roten Sportwagen.
„Und jetzt?“
„Warte“, sagt er, „Nicht so ungeduldig. Sie müsste gleich kommen. Um diese Zeit fährt sie immer zum Sport.“
Die Frau, der wir auflauern, ist schlank und blond, fast wie ein Püppchen. Sie trägt eine gelbe Sporttasche. In einem unbeobachteten Moment; sie will ihre Tür aufschließen; springt Spiegel-John aus seinem Versteck und presst das Gesicht der Frau in die Fensterscheiben des Wagens.
„Komm her“, schreit er mir zu. Die Frau wimmert. Ich füge mich schon wieder, wie eine Marionette, und halte sie an ihren Schultern fest. Als sie erkennt, wer sich ihrer bemächtigt, verzerrt sich ihr Gesicht wie bei John, bevor er ausgetauscht wurde. Wenig später folgt sie uns willig.
Wir suchen Restaurant-Toiletten auf, wir gehen in Banken und Geschäfte, in Wohnhäuser und Schulen. Wir besuchen jeden Ort, an dem man sich spiegeln kann. Sie werden immer mehr und teilen sich in Gruppen auf. Wir befreien jeden ihrer Artgenossen und hinterlassen keine Spuren.
Und die ganze Zeit habe ich keine Angst, ich will nicht einmal weglaufen. Mir scheint es so irreal, dass ich glaube zu träumen. Und irgendwann werde ich aufwachen, das weiß ich, irgendwann wache ich auf, Laslo. Spätestens, wenn sie mich vor den Spiegel zerren, um mein Ich zu befreien.
VI
Es klopft an der Tür. Meine Augen sind verkrustet vom Schlaf. Als ich sie öffne, starre ich an eine Wand. Weiß, kalt und nackt. Es klopft noch einmal.
„Ist alles in Ordnung, Herr Meyer?“ fragt jemand hinter der Tür.
Ich schüttele meinen Kopf. Schmerzen drücken mich zunächst ins Kissen zurück, dann nehme ich Tabletten vom Nachttisch und schlucke sie mit Wasser hinunter.
„Hören Sie?“ fragt die Stimme, „Sie haben geschrien und da dachte ich, ich frage mal nach. Ist alles in Ordnung bei ihnen?“
Ich stehe auf, ziehe mir ein Hemd über und öffne die Tür. Ein hagerer Mann steht vor mir. Er lächelt besorgt.
„Ja“, flüstere ich, „Alles bestens. Ich hatte nur einen Albtraum.“
Bevor ich die Tür schließen kann, fragt er mich, ob ich frühstücken möchte. Ich käme gleich runter, antworte ich.
Das Badezimmer ist klein. Ich wasche mich schnell, ziehe mir frische Unterwäsche an und betrachte meinen Körper. Rote Flecken zieren die Haut. Vom Stress. Mein Gesicht kann ich nicht sehen, denn hier gibt es keine Spiegel.
Ich versuche mich zu erinnern. Meine Zähne sind wahrscheinlich schon gelb, die Nase riecht das Duschgel. Ich zwinge mich zu lächeln. Es gelingt mir nicht. Ich ziehe mich vollständig an und verlasse mein Zimmer.
Auf dem Weg nach unten begegne ich Henriette, meiner Nachbarin. Sie wohnt schon seit Jahren in diesem
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