Schattengeschichten
Hotel. Sie sagt, nach dem Tod ihres Mannes wollte sie einfach nicht alleine sein und ein Heim kam für sie nicht in Frage. Sie sei noch nicht alt genug für so was.
Im Speisesaal begegne ich den Anderen. Sie alle sind nicht aus der Gegend. Sie mussten ihre Städte verlassen. Mein Gehirn scheint nicht mehr zu funktionieren, aber ich traue mich, jedem einzelnen ins Gesicht zu sehen und zum Morgen zu grüßen. Ich trinke einen Kaffee nach dem anderen. Ich esse Spiegelei mit Toastbrot, zwei Streifen Speck dazu.
Am Nachmittag gehe ich spazieren, so wie jeden Tag, seit ich hier bin. Seit sie kamen. Ich gehe zum Zeitungsladen und hole mir eine spärliche Ausgabe des Spiegels. Nur ein Artikel interessiert mich, wie immer. Er findet sich jede Woche in dieser Zeitung. Nur die Zahlen verändern sich. Jetzt sind es schon Millionen. Am Abend verweile ich am Rand des Dorfes. Weiter komme ich nicht. Weiter dürfen wir alle nicht.
Wir kennen die Antwort, doch niemand spricht sie aus. Sie ist zu unwirklich. Und ich werde ihnen bestimmt nicht berichten, dass alles mit mir begann. Nur weil ich auf sie geachtet habe.
Das Dorf ist klein. Die meisten echten Menschen sind gestorben wegen dem Wahnsinn, der sie ereilte. Nur wir sind die letzten und unsere Seelen spiegeln sich in ihrer Welt. Ich glaube nicht, aber jede Nacht bete ich für einen Traum. Ich hoffe auf ein Ende und dabei ist es schon längst geschehen.
Als ich das Hotel wieder betrete, erzählt mir der Inhaber von Neuankömmlingen. Eine Familie mit drei Kindern. Es wird nicht lange dauern und sie sind in der ganzen Welt. Wie ein Virus breiten sie sich aus.
Wenn ich schlafe, habe ich stets denselben Traum. Ich folge meinem anderen Ich überall dorthin, wo er hin geht. Denn ich kann nicht anders, bin an ihn gefesselt. Und jedes Mal, wenn er in einen Spiegel blickt, spreche ich die Gesichter von denen an, die noch übrig sind.
„Helft ihr uns?“ frage ich, doch wenn sie es hören, dann erschrecken sie nur und wenden sich ab. Die Wahrheit möchte keiner von ihnen wissen. Aber Sie, verehrter Zeitzeuge, haben mir zugehört. Das beruhigt mich.
Im Schlafzimmer
Ich kam aus dem Norden und passierte gerade jenes Straßenschild, das den Fahrer wissen ließ in Hamburg zu sein, als ich sie am Fahrbahnrand erblickte. Ihr Kleid war an einigen Stellen aufgerissen. Die blasse Haut schimmerte durch. Sie trug ihr Haar kurz und rot. Ein weich gezeichnetes Gesicht betonte ihre Verletzlichkeit. Erst vor zwei Tagen hatten Susanna und ich unsere Beziehung beendet. Und schon hielt das Schicksal die Begegnung mit einer Fremden bereit, die desorientiert und spärlich bekleidet eine Landstraße entlang ging.
Ich hielt meinen Wagen auf dem Gehweg und stieg aus.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte ich unbeholfen. Sie blieb stehen und sah mich verwirrt an. Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig.
„Hatten sie einen Unfall?“ war meine zweite Frage. Ihre Lippen zitterten und für einen Moment öffneten sie sich, aber kein Laut drang heraus. Ich erschrak, als sie plötzlich weiter ging und mir in die Arme fiel. Sie roch nach Krankenhaus und einem Rest Parfum, das sich in ihrem Kleid festgesetzt hatte.
„Hunde...“, stammelte sie, „Er ließ die Hunde...“, dann weinte sie bitterlich und hinterließ nasse Stellen auf meinem Hemd. Die rechte Hand legte ich auf ihren Hinterkopf und meine Finger streichelten ihr Haar.
Auch wenn ich nicht aus ihren Worten schlau wurde, eine innere Stimme sagte mir, es sei Zeit zu verschwinden. Wer auch immer ihr Kleid zerrissen hatte. Er war noch in der Nähe. Das meinte ich in der nahenden Dunkelheit zu fühlen.
„Steigen sie ein“, sagte ich und sie kam meiner Aufforderung dankbar nach. Ich schloss die Tür hinter ihr und glaubte, im dem Gebüsch hinter mir raschelte es. Das war nichts Ungewöhnliches, weil hier viele Tiere herum streunten, trotzdem trugen mich meine Beine im Laufschritt zu meiner Wagentür. Nahezu hektisch ließ ich den Motor an und fuhr weiter. Ein Blick in den Rückspiegel meldete keine Verfolger. Ich sah auf eine wenig befahrene Landstraße und weit entfernt war der nächste Wagen.
Als die Unbekannte noch immer weinte, sagte ich: „Jetzt ist alles in Ordnung. Sie sind in Sicherheit.“
Aber sie schüttelte den Kopf.
„Nichts ist in Ordnung“, schluchzte sie, „Sehen sie sich das an.“ Sie hob ihr Kleid an, weit hoch bis zu ihren Lenden. Und da sah ich die blutigen Spuren. Ihre Oberschenkel sahen angebissen aus. Eine Kruste hatte
Weitere Kostenlose Bücher