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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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der Färbung gewesen, dieser chemische Geruch von Angst, den der Wind mir von Pollys raspelkurzem, rotem Schopf in die Nase trieb, hätte ich vielleicht aufgeatmet.
    Dennoch hatte ich das seltsame Gefühl, das Starlight , Rosas Tod und das alte Mietshaus in der Rolandsgasse lägen schon seit Monaten hinter uns, irgendwo in einer Vergangenheit, die mir bereits so fremd war, als wäre sie nicht uns, sondern jemand anderem passiert.

III Astronomie - Anderthalb Jahre zuvor
    Sehr guten Morgen, Frau Lehrerin!
    So stand es auf den Plakaten. Sie hingen im Potsdamer Hauptbahnhof. Keine Ahnung, wie lange schon. In den letzten Wochen war ich nirgendwo mehr hingefahren. Ich hatte im Wohnheimzimmer gehockt und für die Mündliche gebüffelt.
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    Für nichts mehr hatte ich Augen gehabt, nur für meine Lehrbücher. Polly war auf Zehenspitzen durchs Zimmer geschlichen und hatte darauf verzichtet, Radio zu hören, um mich nicht zu stören. Während ich Musikgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Lineare Algebra und Didaktik paukte, hatte sie meinen Gürtel aus der Jacke gezogen, sich ans Fenster gesetzt und ihn stundenlang mit winzigen roten und schwarzen Knöpfen verziert. Jetzt war die Zeit der Stille endlich vorbei, die letzte mündliche Prüfung lag hinter mir.
    Als ich aus dem Prüfungsraum kam, hatte Polly neben zwei anderen Prüflingen auf einem Stuhl gewartet, mit einem Schirm neben sich und einer einzelnen Sonnenblume in der Hand. Sowie sie mich sah, sprang sie auf und rief: „Überraschung!“ Sie griff in ihre Tasche und zog einen Piccolo und zwei Plastikgläser heraus. „Herzlichen Glückwunsch!“
    Gleich als sie angefangen hatte, laut zu sprechen, hatten die anderen hochgeschaut.
    „Komm, wir gehen“, sagte ich und zog Polly die Treppe zum Ausgang hinunter. Ich hörte noch, wie sie hinter uns anfingen zu reden, schnappte das Wort durchgeknallt auf oder meinten sie durchgefallen ? Ich zog Polly noch schneller die Treppe hinunter.
    „He, wir müssen anstoßen!“, protestierte sie.
    Vor der Tür blieb ich endlich stehen und nahm Polly die Flasche aus der Hand. „Prost!“, sagte ich und goss ein. Wir nippten an dem Sekt und sahen durchs Eingangstor nach draußen. Niemand war unterwegs. Der Wind schleuderte Blätter hoch und klatschte sie gegen die Hausmauer.
    Polly sagte: „Ich will noch nicht nach Hause. Ich kann die Bude gerade nicht mehr sehen. Alles riecht nach Prüfung.“ Sie schüttelte sich. „Wie wär’s mit …“ Sie überlegte.
    „Shoppen in Berlin?“, fragte ich.
    „Ja!“
    Warum eigentlich nicht, hatte ich gedacht. Zum Spazierengehen war es viel zu ungemütlich. Und schließlich war heute ein besonderer Tag. Ich hatte den theoretischen Teil des Lehramtsstudiums geschafft! Und Polly kam sowieso viel zu selten raus. Es fühlten sich zu viele Leute von ihr gestört.
    Die S-Bahn fuhr unter dem Sehr-Guten-Morgen-Frau-Lehrerin -Plakat ein. Wir fuhren nach Charlottenburg. Auf der Wilmersdorfer stürzte Polly in einen Handarbeitsladen, kaufte eine Rolle Silbergarn, ein Glas mit gemischten Pailletten und eine Klebepistole. Bei Woolworth erstand sie eine Tüte Muscheln.
    „Cool“, sagte sie draußen. Ihre Augen glänzten. „Ich will mal was mit unseren Winterstiefeln ausprobieren. Findest du nicht auch, dass die ziemlich öde aussehen?“
    „Sie sind genauso so, wie Winterstiefel sein sollten: warm.“
    „Sie sind braun, Mila! Sie haben nicht mal eine Schnalle! Strunzlangweilig. – Ich hab mir gedacht, dass ein paar Muscheln und Pailletten am Umschlag ein bisschen Pep in die Sache bringen könnten.“
    Der Wind riss am Schirm, Pollys Zöpfe flatterten und lösten sich auf, der Regen rann über ihre Stirn, doch sie lächelte. Die Menschen hetzten mit hochgeschlagenen Jackenkragen an uns vorbei. Wir stapften durch die Pfützen, spiegelten uns in den Schaufensterscheiben, und ich dachte: Wir haben’s geschafft. Ich bin Lehrerin!
    Polly zerrte mich weiter, über die Wilmersdorfer zurück auf die Kantstraße, bis zu Humana . Sie sammelte diverse alte Armbanduhren zu fünfzig Cent das Stück in unseren Einkaufskorb und trug sie an die Kasse. Alte Herrenuhren, kitschige Damenuhren, Quarzuhren, deren Display tot war. Kinderuhren. Eine war wie ein Micky-Maus-Kopf geformt.
    „Du weißt doch nicht mal, ob sie gehen“, sagte ich.
    „Das ist völlig egal, ich brauche sie für … ich hab eben eine Idee. Lass dich überraschen!“ Sie sah auf meinen Gürtel.

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