Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Währenddessen musste man aufpassen, dass das kunstvolle Kissen- und Deckenensemble darunter keinen Schaden nahm. Ich zwang die Decke am Kopfende mit einem Handkantenschlag in eine anmutige Falte. In die Falte meißelte ich die darunterliegenden Kissen ein. Formvollendet. Ich atmete jetzt heftig.
Es war ein Morgen im April, und Lin und ich arbeiteten auf demselben Gang. Es gab nur den Morgen und uns beide.
Und ein Ding, das hinter mir im Sessel saß und das, wenn ich mich umdrehte, wie eine Frau aussehen würde.
Ich bettete zwei Pralinen auf die Kissen, drehte mich um und sah auf den Boden. Schweißtropfen rannen zwischen meinen Brüsten zum Bauch. Ich brauchte dringend eine Pause. Rosa sagte: „Noch mal, Milana.“
Ich presste die Nägel in die Handballen. Es war immer dasselbe. Dabei ist dein Zusammenbruch nicht wirklich ihr Ziel. Sie wollen sich danach sehnen. Dein Wert besteht in dem Ausmaß der Sehnsucht, das du ihnen geben kannst. Vergiss das nicht, dachte ich. Dieses Grau da draußen im Himmel. Deine Empörung. Und vergiss nie die Scham.
„Hast du gehört?“
Als ich den Kopf hob und Rosa ansah, stellte ich mir Rosas Sehnsucht als Seil vor. Geflochten. Sechs Millimeter dick. Ein Seil um ihren Körper und die Gelenke, dessen Enden ich in ihrem Rücken verknotete. Ausbruchsicher. Ich stellte mir vor, wie ich dann das Licht ausmachte.
Und wie ich wegging.
- - -
Ich ging drei Tage später.
Wäre Polly nicht gewesen, wäre es vielleicht später passiert. Aber passiert wäre es sowieso. Dinge, die einmal angefangen haben, kann ich nicht einfach abbrechen. Konnte ich noch nie. Und Polly war an diesem Tag ins Hotel gekommen.
„ Sie hat mich auf dem Kieker … haha. Ich hab gemerkt, dass da etwas nicht stimmte“, sagte sie später. „Du hast mich angelogen, Mila.“
„Hab ich nicht. Ich hab nur nicht alles gesagt.“
„Mann, sie hätte dich …“
Aufgefressen, dachte ich.
Sie hätte mich ausgeweidet wie alle vor mir, solange, bis nichts mehr übrig gewesen wäre, und dann wäre ich ersetzt worden. Die alte Geschichte.
Polly hatte das Zimmer betreten, als Rosa auf der Klappleiter stand, sich am Fensterkreuz festhielt und mit einem Tuch über die Außenjalousien wischte, um mir Vogelscheiße nachzuweisen. Ich stand mit weißen Händen und fliegendem Herz daneben und wusste, dass ich gleich da rauf musste. Auf die Leiter, neun Stockwerke über der Erde.
Seit Rosa wusste, dass ich Höhenangst hatte, legte sie besonderen Wert auf die Fenster. Sie teilte mich nur noch im neunten Stock ein. Ab dem zehnten Stock waren die Fenster blockiert, zum Schutz der Gäste. Ich hatte mich von Anfang an über diese seltsame Grenze gewundert. Als wären neun Stockwerke ungefährlich.
„Du Schwein!“, schrie Polly und rannte zu uns rüber. „Du mieses Schwein!“
Rosa fuhr herum, da warf Polly sich schon gegen die Leiter.
- - -
„Mila, Mila, was …“ Lin stand auf einmal auf der Schwelle. Ich wusste nicht, wie lange schon. Sie stand und war ganz weiß und starrte Polly an.
„Rosa ist …“ Ich brach ab. Ich sah nur hinüber zum Fenster. Ich spürte, wie kalt mein Gesicht war, meine Finger, meine Füße.
Lin war plötzlich am Fenster. Es war wie ein Schnitt im Film. Eben war sie noch auf der Schwelle, jetzt am Fenster. Sie sah hinunter, und als sie dann anfing zu schreien, waren Polly und ich schon draußen. Rannten die Treppen hinunter, stürzten aus dem Nebenausgang. Die Pförtnerloge war leer. Als wir vom Boulevard in die erste Nebenstraße einbogen, hörten wir die Sirenen kommen.
Wir wurden langsamer. Sahen uns um. Folgte uns jemand? Wir bogen wieder ab. Vor einem Laden mit dem Namen Haar-Vision blieben wir stehen. Atmeten durch.
Als ich die Tür öffnete, hatte ich kurz das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Ich trat an die Theke, schob Polly vor mich hin. Wie vor anderthalb Jahren in einer anderen Stadt.
Damals hatte ich gesagt: „Bis zum Ohr, bitte. Und blond färben.“ Eine Schere hatte das schwarze, lange Haar dann mit einem Schnitt vom Kopf getrennt.
Jetzt sagte ich: „Drei Millimeter. Bitte färben Sie es rot.“
Am selben Nachmittag standen wir an Deck. Die Finger um die Reling und die Gesichter nach vorn, Richtung Schweden. Der Wind zog über die Fähre. Sie hieß Stena Line , genau wie beim ersten Mal vor sechs Jahren. Ich sah auf die Möwen. Sie zogen um das Schiff. Sie zogen in langsamen, weiten Bahnen; ihre Schnäbel standen wie Dolche gegen das Licht.
Wäre nicht der Geruch
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