Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Zeit bewundert, mir gesagt, wie schön ich wäre. Ich hab sogar für ihn getanzt. Ohne BH. Das ging ein paar Tage so. – Dann wollte ich es nicht mehr. Ich weiß nicht, warum. Ich kam mir auf einmal blöd vor.“ Sie sah mich wieder so an. Wieder mit diesem Blick, verdunkelt von einer Frage.
„Und dann?“
„Er war … er …“ Sie zerpflückte den Bierdeckel in winzige Pappfetzen und starrte zur Bar. Die Augen weit geöffnet, der Blick leer. „Er war plötzlich ganz anders. Kalt. Er schrieb, ich solle zu ihm kommen. Und wenn ich nicht machen würde, was er will, würde bei facebook und bei SchülerVZ ein neues Profil unter meinem Namen einrichten und … und … die Videos reinstellen.“
„Dieser Scheißkerl“, sagte ich. „Du hast es getan, oder?“ In mir war alles ganz kalt vor Wut. Wut auf diesen Idioten, Wut auf Paul, der Gudrun und mich wie Abtreter behandelte, Wut darauf, dass das alles schon so normal war.
„Ich bin zu ihm,“ sagte Yvette. „Ich hatte eine Wahnsinnsangst, dass er die Videos online stellt.“
Wie groß muss so eine Angst sein, dachte ich, wenn man es sogar in Kauf nimmt, zu einem möglichen Psychopathen in die Wohnung zu gehen.
„Wenn meine Eltern oder Mitschüler die Videos sehen …“ Sie starrte mich an. Ihre Augen waren riesig und leer. Ein Gesicht wie ein aufgegebenes Haus. Ich nahm ihre Hand. Sie war eiskalt. „… dann bin ich erledigt.“
„Was wollte er von dir?“, fragte ich. „Wie alt war er? Weißt du seinen Namen?“
„Er war alt“, sagte sie langsam. Mit diesem Gesicht. Zwischen den Worten knickte ihr die Stimme weg, sie stolperte von Satz zu Satz. „Dreißig … mindestens. Er wollte immer dasselbe. Es war … schrecklich. Er saß auf einem Stuhl in der Mitte des Raums. Er wollte … dass ich seine Hände mit einer Wäscheleine hinter dem Rücken zusammenbinde. Die Beine an die Stuhlbeine. Dass ich ihn … fest umwickle. Und dann … sollte ich um ihn herumgehen und ihn beschimpfen. Je ekliger, desto besser. Vorher musste ich … immer das Radio anmachen, damit die Nachbarn nichts hören. Wenn ich ihn lange genug beschimpft hatte … musste ich … ich musste ihn anfassen.“ Sie legte ihren Kopf an Pollys Schulter, die sofort die Arme um sie schlang und sie hin- und herwiegte.
„Und dieser Kittel da in deiner Tasche?“, fragte ich.
„Den musste ich anziehen. Und schreckliche Gummistiefel dazu …“
Pollys Kopf zuckte hoch. Sie sah mich erregt an.
„Gummistiefel? Waren die gelb?“, fragte ich. „Mit einem orangen Rand?“
Yvette schluchzte nur.
„Warst du heute auch bei ihm?“
„Ich komme ja gerade von ihm. Ich … ich hab ihn festgebunden wie immer, aber als ich wieder das Teil anziehen sollte …“ Sie zeigte auf die Tasche und gab ihr wieder einen Tritt, „… es ging einfach nicht. Ich konnte nicht. Ich bin … weggerannt. Ich hab ihn nicht losgebunden, aber ich hab die Tür ein bisschen aufgelassen, damit er Hilfe rufen kann.“
„Standen neben der Wohnungstür solche künstlichen Felsbrocken?“
Yvette machte sich von Polly los, schnäuzte sich und sah uns erstaunt an. „Ja, woher wissen Sie das?“
Die wichtigsten Momente im Leben geben sich nur selten zu erkennen. Sie verlaufen still, eingebettet in die Minuten davor und danach, sie stechen in keiner Weise hervor, und doch sind es jene Momente, in denen man, oft ohne es selbst zu wissen, Entscheidungen trifft, die das ganze Leben verändern können.
„Ich kenne diesen Menschen“, sagte ich. Ich musste mich anstrengen, dass meine Stimme nicht zu Eis gefror. „Pass auf, Yvette“, sagte ich. „Du gehst jetzt nach Hause. Er wird kein Video von dir ins Netz stellen. Das verspreche ich dir. Er schuldet mir einen Gefallen. Mehr als das. Geh nach Hause, ja? Morgen in der Pause sag ich dir, wie es weitergeht.“
Sie wischte sich über die roten Augen. „Sind Sie sicher?“, fragte sie. Ihr Blick war ungläubig, aber wach, hellwach. Sie sah mich an, als wäre ich ein Stein, der plötzlich zu blühen angefangen hätte.
„Ganz sicher“, sagte ich. „Geh nach Hause.“
- - -
Als Yvette weg war, sprangen wir auf. Es war keine Zeit mehr zu verlieren.
„Mila?“, rief Gudrun uns hinterher, aber wir waren schon weg.
„Schneller!“, trieb Polly mich auf der Straße an.
Wir rannten auf unseren hohen Schuhen über den Asphalt. Als wir ins Blechhaus stürmten, war im ersten Stock wieder laut Musik zu hören. Bine machte mal wieder eine Party. Es hallte durchs ganze
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