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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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umgebracht. Milana Helmholz
    Dann rollte ich mit dem Koffer nach draußen. Bis morgen wären wir weit weg. Vielleicht in Koblenz. Oder in Hamburg. Polly, Vincent und ich.
    Es war schon spät. Die Nacht war angebrochen. Eine sich ausbreitende Lache Dunkelheit. Wir würden den nächsten Zug nehmen.
    Wir mussten morgen unbedingt zum Friseur. Die langen Haare mussten ab. Ab morgen würden sie uns suchen.

IV Irrtum - Fünf Jahre zuvor
    Die Postbotin hatte etwas in den Briefkasten geworfen. Ich hatte es genau gesehen!
    Ich stieß mich vom Fenster ab, rannte aus dem Zimmer die Treppe hinunter, nahm gleich mehrere Stufen auf einmal, flog durch den Korridor, schnappte mir den Briefkastenschlüssel an der Wand, bevor Ina es tat, und sprintete nach draußen.
    Faber Lotto – Sie gewinnen immer!
    Es ist Urlaubszeit! Fünf Tage Schwarzwald, vier Tage bezahlen!
    Irgendwas von der Bank.
    Und da, da war er! Der Brief von Tove Jansson! Ich stopfte die Werbung wieder in den Kasten, lief ins Haus, hängte den Schlüssel zurück und rannte wieder hinaus. Ich musste zu Polly!
    Noch ehe ich aus dem Gartentor war, steckte Ina den Kopf aus dem Fenster und rief: „Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“
    Das geht dich gar nichts an, dachte ich und tat einfach so, als hätte ich sie nicht gehört.
    „Mila!“
    Ich blieb stehen. „Ich geh kurz noch mal weg“, sagte ich.
    „Um zwölf gibt’s Essen!“
    Als ob ich das nicht wüsste. Es hätte ein Meteorit auf dem Hof landen, die Fußballweltmeisterschaft auf unserem Sportplatz stattfinden, es hätte auch Frösche regnen können – Punkt zwölf würde trotzdem das Essen auf dem Tisch stehen. Das war so sicher wie die Erbsensuppe am Montag, der Hering am Freitag und der Braten am Sonntag.
    „Schon klar“, rief ich und ging davon, bevor sie noch auf die Idee käme, dass ich ihr beim Abwaschen helfen könnte.
    Noch drei Monate, dann würde ich endlich weg sein von hier. Für immer. Als ich die Zusage für das Lehramtsstudium bekommen hatte, hatte ich geglaubt, dass mir diese letzten Monate leichter fallen würden. Aber das Gegenteil war passiert. Jeder Tag schien sich plötzlich endlos zu ziehen.
    „Sau dich nicht wieder so ein!“
    „Ich bin achtzehn, Ina, keine drei!“
    Wenn alles gut lief, wenn dieser Brief von Tove Jansson das enthielt, was ich erhoffte, war ich nicht erst in drei Monaten, sondern schon in fünf Tagen weg.
    - - -
    Den Winter über hatte Polly bei mir übernachtet, aber seit die Tage wärmer geworden waren, blieb sie wieder draußen. Ihre Laube am Weiher war von Schnee- und anhaltenden Regenfällen zerstört worden, deshalb war sie tiefer in den Wald gezogen, hatte einen alten, nicht mehr genutzten Hochsitz ausgebessert und mit Ästen getarnt.
    Man musste genau wissen, wo man suchen musste. Ich sprintete die Forstwege entlang, bis ich vor dem Versteck stand. „Polly!“, rief ich nach oben. Ich atmete heftig, hielt mir die Seiten. „Polly!“
    Nichts. Die Bäume ließen ihre Kronen schwanken, ein leiser Luftzug brachte die Farne zum Tänzeln, die Sonne zitterte auf den Stämmen. Vögel kreischten. Doch dann raschelte es plötzlich über mir, Zweige wurden beiseite geschoben, und Pollys Kopf schaute heraus. Sie sah verschlafen aus.
    „Was’n los?“, fragte sie und gähnte.
    „Post!“, rief ich aufgeregt und winkte mit dem Brief.
    Da kletterte sie die Leiter herunter. Unten reckte sie sich, rieb sich die Augen. „Ich könnt’n Kaffee vertragen“, sagte sie. „Ich hab die halbe Nacht wach gelegen und auf die Hirsche gewartet.“ Sie setzte sich neben mich auf den Waldboden. „Na los“, sagte sie, „zeig her.“
    Ich riss den Umschlag auf, dann lasen wir, was Tove Jansson geschrieben hatte. Als ich den Brief wieder zusammenfaltete, sagte Polly: „Sieht so aus, als wäre das unser erster gemeinsamer Urlaub!“
    - - -
    Wir hatten die Anzeige die Woche zuvor entdeckt. In der Zeitung. Eigentlich war ich auf der Suche nach einem Ferienjob gewesen. Nicht, weil ich Geld brauchte – ich hatte ein bisschen was von Ma geerbt, das würde fürs Studium reichen –, sondern weil ich möglichst weit von Carsten und Ina weg sein wollte. Seit ich das Abi in der Tasche hatte – seit einem Monat –, hatte ich frei. Aber frei, das hieß, dass ich von morgens bis abends mit Ina und Carsten zusammen sein musste. Es hieß, mit Ina in der Küche zu stehen und bis zu den Ellbogen in einer Schüssel Hackfleisch zu hängen, Fleischfladen zu braten und sie zu Burgern

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