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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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alles?“
    Da setzte Polly schon zum Sprechen an, aber ich gab ihr unter dem Tisch einen Tritt. Yvette sah mich fragend an. Ich sagte nur: „Ich weiß es ja gar nicht.“
    „Es stimmt aber. Ich hab ihm was vorgespielt.“
    „Per Telefon?“
    „Webcam“, sagte Yvette. „Und er war begeistert! Er hat geschrieben, die Songs wären Spitze. Ich hätte eine wahnsinnig schöne Stimme. Und Ausstrahlung.“ Sie sah mich an, verzweifelt, die Augen verdunkelt von der Frage, die so viele Mädchen beschäftigte: Findest du mich langweilig ?
    Ich sah Yvette an und hatte plötzlich so eine seltsame Ahnung.
    Sie war gut in den Klassenarbeiten, hielt sich im Unterricht aber vollkommen im Hintergrund. Ein gefühlsbetontes Mädchen, das schnell weinte und sich hinter einer fast schon schmerzhaften Schüchternheit verbarg.
    „Und dann hat er gesagt, du solltest dir vielleicht mal die Haare grün färben – das würde noch cooler aussehen“, versuchte ich es.
    Yvette griff sich ins Haar und sagte: „Ich hab sie ja nur getönt. Aber meine Mutter war … sie war total wütend. Ausgerastet ist die. Ich musste mir das Haar dreimal waschen. Aber …“ Sie nahm eine Strähne hielt sie sich vor die Augen, „… ein bisschen Grün ist drin geblieben.“
    „Und dann?“
    „Ich hab’s ihm über die Webcam gezeigt. Und er hat geschrieben, dass ich … dass ich wunderschön aussehe. Punkig , hat er geschrieben. Punkig und … sexy.“ Sie legte wieder die Hände vors Gesicht. Saß lange so da. Ihre Schultern bebten. Polly legte ihr die Hand ins Haar, streichelte es. Yvette sah hoch, sah Polly ins Gesicht. Sie sagte: „Ich hab ihm geschrieben, dass ich ihn auch mal sehen will. Dass er mir über die Webcam zeigen soll, wie er aussieht.“
    „Wie – du hattest ihn noch nie …“, rief Polly entrüstet, und ich bekam einen Hustenanfall, überhustete Pollys Stimme, keuchte und brachte Yvette dazu, mir auf den Rücken zu schlagen, und so dachte sie wahrscheinlich, sie hätte sich verhört.
    „Du hattest ihn noch nie gesehen?“, übernahm ich dann Pollys Satz.
    Yvette schüttelte den Kopf. „Er hatte die Webcam nie an.“
    „Und das kam dir nicht komisch vor?“
    „Ich weiß, das klingt blöd“, sagte Yvette leise, „aber … nein. Es war alles irgendwie … logisch. Er meinte zum Beispiel, Aussehen wäre nicht wichtig. Jedenfalls nicht das Wichtigste. Und bei ihm würden die Mädchen immer nur sein Gesicht anschauen, weil er so gut aussieht. Sie rennen ihm hinterher, schrieb er, aber interessieren würde sich keine für ihn, nur für sein Gesicht. – Und das … das kannte ich ja irgendwie. Nur andersrum. Er meinte, wir würden uns bald treffen, aber vorher sollten wir uns einfach noch ein bisschen besser kennenlernen. – Und dann sagte er …“ Sie sah hoch. Tränen schimmerten in ihren Augen, doch als sie der Tasche unterm Tisch einen heftigen Tritt versetzte, wusste ich, dass es Wuttränen waren, „… und dann sagte er, dass er glaubt, er hat sich verliebt.“
    - - -
    Ich sah alles vor mir. Ich sah dieses dünne, verlegene Mädchen zu Hause vor dem Computer sitzen, sah sie Gitarre spielen, sah sie sich die Haare grün tönen, um ihm zu zeigen, dass sie schön war. Ich sah, wie sie ihre Augen schminkte. Den blassen Mund. Wie sie ihr Gesicht für ihn entzündete.
    Ich sah, wie sie die Webcam einstellte, damit er auch ihren Hals sehen konnte, und wie sie sich etwas umband. Zuerst versuchte sie es mit einem dünnen Lederband, das sie sich extra für diese Gelegenheit an einem Stand gekauft hatte. Und dann machte sie es wieder ab, weil sie sich komisch damit vorkam und nahm stattdessen eine Kette mit einem silbernen Anhänger. Der Anhänger war ein kleines L. L für Love, aber das konnte er wahrscheinlich gar nicht sehen.
    Ich sah vor mir, wie Yvette errötete, als er ihr schrieb, dass er sich in sie verliebt hatte. Ob sie etwas Ähnliches fühlen würde. Wie sie dann nervös zurückschrieb: Ich weiß nicht … vielleicht … ja, ein bisschen. Und er dann fragte, ob sie sich ihm auch mal im BH zeigen würde.
    „Und du hast es gemacht?“, fragte ich.
    „Ja, ich hab den BH sogar abgemacht“, sagte Yvette. Sie war plötzlich schneeweiß. Ich fragte mich, ob das vom Alkohol kam, aber sie wirkte nicht betrunken. Sie war so blass, dass ihr Mund konturenlos in ihr Gesicht überzugehen schien.
    „Was ist passiert?“, flüsterte ich.
    „Ich hab … Sachen gemacht, um die er mich gebeten hat. Vor der Webcam. Er hat mich die ganze

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