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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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gerade eine Stunde mit Gudrun getauscht.“
    „Wann hier Stunden getauscht werden, bestimme ich, nicht ihr!“ Dann warf er einen kurzen Blick auf Yvette und wendete sich wieder zu mir. „Deine Privatgeschichten kannst du zu Hause klären! Hier ist kein Hühnerstall, sondern dein Arbeitsplatz. Wer ist das überhaupt – deine Mitschülerin?“ Offenbar hatte er mir von Anfang an nicht geglaubt, als ich gesagt hatte, ich wäre dreiundzwanzig.
    „Das ist meine Lehrerin“, sagte Yvette plötzlich. Sie hatte den Kopf gehoben und schaute Paul angriffslustig an. So einen Blick hatte ich bisher noch nie an ihr gesehen.
    „Wie, Lehrerin?“, fragte Paul und sah auf mich, als hätte Yvette gerade erklärt, ich wäre Michael Jackson. „Machst du Witze?“
    „Nein“, sagte ich nur.
    „Ich hab hier die ganze Zeit ’ne verdammte Paukerin sitzen?“, rief Paul. „In meiner Bar?“
    Daraufhin war es still. Gudrun hatte den Song beendet.
    Da lächelte er die Parodie eines Lächelns. Es sah aus, als wären seine Mundwinkel eingerostet, als täte es weh. Dann hörte ich ein kleines, kaltes Lachen, und ich wusste, dass ich gefeuert war.
    - - -
    Der Jungbusch sei eine rohe Gegend, hatte mich Polly am Anfang aufgeklärt. Riskant. Zumindest in den Straßen, wo keine Laternen brannten. Dort solle man nicht unbedingt allein laufen. Vor allem nicht nachts. Vor allem nicht als Frau.
    Ich hatte eigentlich nie gedacht, dass etwas passieren könnte.
    Erst Yvette hat mich davon überzeugt. Yvette mit ihren unentschieden langen Haaren, von denen sie mir vor wenigen Tagen in der Schule gesagt hatte, dass sie sie grün getönt habe, die aber trotzdem nur mausblond aussahen. Mit ihrer weichen, immer etwas atemlosen Stimme.
    Was mochte Yvette gedacht haben, als ich am nächsten Tag nicht mehr zur Schule kam? Als ich einfach so über Nacht verschwand? Ohne mich von ihr zu verabschieden. Ohne mich von irgendwem zu verabschieden.
    Bevor Yvette mir alles erklärt hatte, zeigte sie mir den Inhalt ihrer Tasche: ein Faschingskostüm, ein weißes Kittelkleid mit einem großen, roten Kreuz auf der Brust.
    „Wozu brauchst du das?“, fragte ich. Sie machte die Tasche wieder zu und drückte so heftig auf die Schließe dabei, dass ich dachte, sie würde abbrechen.
    „Jetzt brauch ich es nicht mehr“, sagte sie. „Es ist … alles ist zu spät. Scheiße!“ Sie warf die Tasche mit voller Wucht auf den Boden, hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie schwamm in Tränen. Polly schob ihr behutsam ein Taschentuch hin. „Ich versteh einfach nicht, wieso Sie freiwillig hierher gezogen sind!“, sagte Yvette. „Hier ist es schrecklich.“
    „Aber wieso? Ich wollte nicht mehr da wohnen, wo ich herkomme. Hier gefällt es mir.“
    „Es ist schrecklich“, wiederholte sie. Mir war nicht klar, ob sie mich überhaupt gehört hatte. „Hier sind Leute, die sind echt brutal.“ Und dann fing sie wieder an zu weinen. „Ich hab was ganz Blödes gemacht, Frau Helmholz“, sagte sie schluchzend. „Was ganz schrecklich Blödes. Was Furchtbares . – Ich bin erledigt. Morgen bin ich erledigt“, flüsterte sie. „Ich geh nicht nach Hause, ich will nicht mehr leben.“
    In jenem Moment wusste ich es noch nicht. Nicht mit hundertprozentiger Sicherheit. Ich wusste noch nicht, dass Yvette recht hatte und dass es im Jungbusch tatsächlich brutale Menschen gab. Ich konnte es in jenem Moment auch noch nicht wissen.
    Weil ich so ein Mensch war.
    - - -
    „Ich hab ihn bei SchülerVZ kennengelernt“, fing sie an. „Er hatte mich angeschrieben, hat mir gesagt, dass er mich cool findet, hat mir Songs geschickt.“
    Ich vermutete eine Liebesgeschichte.
    „Und du fühltest dich geschmeichelt“, sagte ich, um Yvette zum Weiterreden zu ermutigen.
    „Ja, weil … weil …“ Sie sah mich nicht mehr an, sah wieder auf die Tischplatte.
    „Weil er sich nicht lustig über dich gemacht hat wie die anderen. Weil er zugehört hat. Er war der Einzige, der wissen wollte, was du denkst. Was du fühlst.“
    Yvette sah auf.
    „Keinem hab ich je erzählt, dass ich Lieder schreibe. Nur ihm“, flüsterte sie. „Lieder mit Text. Auf Englisch. Ihm hab ich’s verraten. – Den Leuten aus meiner Klasse kann ich das nicht sagen. Sie würden sich noch mehr lustig machen.“
    „Aber er“, sagte ich vorsichtig, „hat nicht gelacht, oder? Er … er hat dich gefragt, ob du ihm was vorsingst?“
    „Spielst“, sagte sie. „Ich spiele ja Gitarre dazu. – Aber wieso wissen Sie das

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