Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Haus. Wir stürmten die Treppen hoch und rannten in unserer Etage auf die linke Tür zu. Die gelben Gummistiefel standen nicht mehr da. Die Tür war nur angelehnt. Genau wie Yvette gesagt hatte.
„Halt, noch nicht!“, sagte Polly, als ich die Tür aufdrücken wollte. Sie schloss unsere Wohnung auf und ließ die Tür angelehnt, für den Fall, dass wir schnell nach drüben flüchten müssten.
Und dann schoben wir ganz langsam die Tür zu Flössows Wohnung auf.
- - -
Zuerst hörten wir das Radio. Eine flippige Männerstimme gab die Verkehrsmeldungen und die Blitzer durch. Dann das Jingle. Radio Regenbogen . Musik.
Wir schoben die Tür etwas weiter auf. Ganz vorsichtig. Mein Blick fiel auf den ersten Stiefel. Er stand ganz vorn. Der zweite lag im Wohnzimmer. Am anderen Ende des Zimmers lag Flössow mitsamt dem Stuhl auf dem Boden. Irgendwas tat er mit seinen hinter dem Rücken verbundenen Händen.
„Herr Flössow?“
Er erstarrte. „Wer ist das?“ Die Frage kam so schrill wie ein Alarmsignal.
„Ich bin’s. Ihre Nachbarin. Ich hab gesehen, dass die Tür aufstand …“ Ich kam langsam näher. An seinem Hals sah ich, wie er erst tiefrot wurde, dann blass. Gräulich blass. Wie Recycling-Toilettenpapier. Ich sah die Ader an seiner Schläfe pulsieren.
Yvette hatte ganze Arbeit geleistet. Er war fest verschnürt. Die roten Stellen auf seinen nackten Beinen verrieten, dass er versucht haben musste, die Leine mit bloßer Muskelkraft zu zerreißen. Als dieser Versuch gescheitert war, musste er sich rutschend zum Küchenschrank bewegt haben, um …
Mein Blick flog zum geöffneten Besteckkasten. Zurück zu Flössow auf dem Boden. Und dann sah ich das Messer in seinen Händen. Er musste herangerutscht, das Messer mit den Zähnen aus dem Kasten geholt, es auf den Boden fallen lassen und sich dann selbst seitwärts abgekippt haben, um es mit den Fingern zu erreichen.
Ich kam um ihn herum, sah ihn an. Ich versuchte, erschrocken und mitleidig auszusehen. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“
Ich ging vor ihm in die Hocke, griff nach dem Messer, und für einen winzigen Moment schien es, als wollte er nicht loslassen. Dann aber gab er nach. Ich legte das Messer auf den Küchentisch und hievte den Stuhl zusammen mit Polly wieder hoch, dass er aufrecht saß.
„Sieht ganz so aus, als wären Sie meine Lebensretterin vom Dienst. Ich … bin überfallen worden!“, sagte er. „Sie waren zu dritt. Haben Geld gesucht. – Schneiden Sie mich bloß los, ich kann meine linke Hand schon nicht mehr spüren.“
„Ja, natürlich, sofort“, sagte ich, ging zum Küchentisch und sah mich dabei im Raum um. „Eins muss man denen aber lassen. Es waren ordentliche Diebe, oder? Nicht mal einen Schrank haben sie aufgerissen!“
„Ich hab ihnen lieber gleich gesagt, wo das Geld ist. Die sahen gefährlich aus.“
„Und bescheiden waren sie auch“, sagte Polly, die etwas auf dem Arbeitstisch entdeckt hatte. „Sogar den Laptop haben sie stehen lassen!“
Keine Antwort. Ich spürte seinen Blick. Der Blick hatte sich verändert, als Polly zu sprechen anfing. Er war wachsam geworden. Misstrauisch.
„Ich mach Sie gleich los“, sagte ich beruhigend. „Ich muss nur vorher eine kleine Sache erledigen.“
Wir gingen zum Arbeitstisch. Nichts Verdächtiges. Keine Fotos, kein pornografisches Material. Dann fiel mein Blick auf die Pinnwand.
Und da waren sie. Alle.
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Ich las die ersten drei.
Kelly, 16, sehr dick, lebt bei ihrer Mutter, schreibt Tagebuch und heimlich Gedichte
Jenna, 16, Madonna-Fan, neu in der Stadt, starke Brille, will ins Ausland gehen / Brasilien und Menschen helfen, schöne Figur, hässliches Gesicht
Ben, 15, Schwächling, gut in der Schule, will Comiczeichner werden, steht auf Formel 1
Dann kam sie.
Yvette, 15, keine Stimme, kein Gesicht, keine Figur, nichtssagend, will Menschen mit ihren Songs begeistern
Dann kamen sechs weitere Mädchen und ein Junge.
„Was soll das?“, rief er schrill. „Was schnüffeln Sie da rum! Binden Sie mich los!“
Ich hörte ein scharrendes Geräusch hinter mir, drehte mich aber nicht um. Ich hielt mich an der Schreibtischkante fest. Sehr fest.
„Er hat es mit allen gemacht“, sagte Polly.
Er hatte sie ausgefragt, ihre Stärken und Schwächen, ihre Träume und Ängste gesammelt, sie zusammengefegt wie Dreck, um sie ihnen dann in die Augen zu werfen. Er hatte sie alle blind gemacht, und alle hatten sie ihm vertraut.
Polly riss alle Steckbriefe von der Pinnwand,
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