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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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bedeutet. Für jeden von uns.
    Aber ich hatte so etwas nie getan. Ich hatte mich noch nie lautstark gegen irgendwas gewehrt. Es war vorher einfach nicht nötig gewesen. Und weil ich nicht wusste, wie man sich wehrte, zog ich mich zurück. Ich machte, was ich immer machte: Ich ging stromern. Und das war ein Fehler.
    Denn die beiden waren verliebt gewesen. Nicht in mich, aber in die Vorstellung, ein Kind zu haben. Sie hatten auf einen Ausbruch gewartet. Sie wollten ein Kind, und ein rebellisches Kind wäre zwar schwierig gewesen, aber ihre Leidenschaft wäre zumindest mit einer Leidenschaft erwidert worden. Meine Gleichgültigkeit nahmen sie mir übel.
    Und nach dem kurzen, anfänglichen Rausch, der immer bei einer Verliebtheit entsteht, verwandelte ihr Gefühl sich in Eifersucht. Sie wollten etwas von mir. Sie wollten mich, und gleichzeitig waren sie eifersüchtig auf mich. Sie taten so, als würde ich sie bestehlen. Als wäre ich jemand, der ihnen das Mädchen vom Anfang mit Absicht unterschlagen würde.
    Als Ina und Carsten merkten, dass mir das Fernsehverbot nichts ausmachte, wandelten sie die Strafe in Hausarrest um. Am lächerlichsten war, dass Carsten sogar den Riegel von außen vor meine Tür schob. Dass er lauschend vor der Tür stand.
    Ich trommelte nicht dagegen. Ich schrie nicht: „Lass mich raus! Du hast mir gar nichts zu verbieten, du bist nicht mein Vater!“ Ich stand einfach nur da, die Stirn gegen die Wand gelehnt, still wie das Klavier, das seit Neuestem unterm Fenster stand. Und während ich seine Anwesenheit hinter der Tür spürte, tastete meine Hand über die Wand, zupfte an der Tapete, die sich lautlos in winzigen Flöckchen löste, und die Wut war ein heißer roter Ball, der sich in meinem Kopf blähte.
    Ma war nie in der Nähe, wenn so etwas passierte. Sie machte einen Arztbesuch in der Stadt, war bei einer Bekannten oder auf dem Friedhof. Sie zog sich nicht nur aus dem Geschäft im Anker zurück, sie schien sich auch von mir zurückzuziehen.
    Ich stand stumm in meinem Zimmer, bis Carsten aufhörte, auf eine Reaktion von mir zu warten, bis seine schweren Schritte die Treppe hinuntergingen. Dann ließ ich die bröselnde Tapete los, nahm meinen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn ins Schloss und versperrte meine Tür von innen. Wenn ich schon nicht mehr hinaus konnte, so konnten sie jetzt auch nicht mehr hinein.
    Kurzentschlossen zog ich das Fenster hoch und schaute nach unten. Mich schwindelte, aber ich stieg aufs Klavier und von da aus aufs Fensterbrett, griff nach einem starken Ast und zog mich nach draußen, in den Eierpflaumenbaum hinein. Ich kletterte die vier Meter nach unten und verschwand durchs Tor auf die Wiesen.
    Ich dachte nie, dass mir etwas passieren könnte. Carsten und Ina verwechselten mich mit jemand anderem. Mir konnte nichts geschehen, nur dieser Tochter, die es nicht gab.
    Das Mädchen sah ich nicht mehr. Aber manchmal fand ich eine Spur. Ich weiß nicht, ob von ihr oder einer anderen. Ich wünschte mir einfach, dass die Zeichen von ihr waren. Der lila Haargummi, der am Zweig einer Birke hing und den ich abrupfte und in meine Tasche stopfte. Kleine Fußtritte in Form eines Kreises am Ufer des Weihers, als hätte sie dort heimlich getanzt. Und einmal einen neuen, ganz weißen Kieselstein mitten in Halbreich, unter dem ich ein krakeliges, auf Pappe geschriebenes P entdeckte.
    Und dann, ein paar Wochen später, war sie endgültig weg. Ich fand nichts mehr. Irgendwann danach sagte ich mir, dass da nie etwas gewesen war. Ich vergaß sie sogar.
    Ich wurde elf. Ich wurde zwölf. Ich hatte gelernt, ohne Türen auszukommen und mich heimlich über Verbote hinwegzuhangeln.
    - - -
    Zwölf Jahre alt. Und der Sommer brach an.
    Jener Sommer, als sich alles noch einmal veränderte. Ein Sommer, der Fäden spannte, ein spinnwebfeines Netz, das sich mit jedem Tag fester zog.
    Ich bettelte Ma an, mir die Haare kurz zu schneiden. Mein langes Haar verfilzte ständig, und der Kamm blieb drin stecken. Es störte mich einfach. Ich wollte es kurz haben, so kurz wie Karina, Jennys große Schwester. Ina machte einen Riesenaufstand deswegen. Trotzdem setzte Ma sich durch.
    „Aber nur bis zur Schulter“, sagte Ina. Sie stand neben Ma und sah ihr auf die Finger. „Nicht weiter. Es reicht, dass sie sich schon wie ein halber Junge benimmt. Sie muss nicht auch noch so aussehen!“
    „Erinnerst du dich noch, wie du damals ausgesehen hast?“, fragte Ma, während sie schnitt. „Deine Haare waren

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