Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
sorgfältig liegen.
„Ja … äh … hi!“, sagte ich. Dann betrat ich Halbreich und half ihr ein bisschen. „Der Weiher ist eigentlich verboten“, sagte ich. „Du bist zu Besuch hier, oder?“
Sie versuchte die halblangen Ärmel ihres Kleids lang zu ziehen. Sie war ein bisschen zu dünn, oder das Kleid war zu groß.
„Er heißt Totensee“, sagte ich.
„Ich weiß.“ Sie lachte.
Ich sah auf die Adern, die durch ihre Haut schienen. Es war erst März, viel zu kühl, um keine Jacke zu tragen. Und dann schaute ich das Mädchen ganz genau an. Da war etwas. Irgendwas war total seltsam. Ihr Gesicht war so dünnwandig, transparent beinahe. War sie krank? Etwas stimmte jedenfalls nicht mit ihr, und mein Herz ging plötzlich einen Tick zu schnell.
„Was glotzt du so“, fuhr sie mich an.
„Das hier ist eigentlich mein Versteck“, sagte ich schnell.
„Und?“, sagte sie. „Soll ich weggehen?“
„Nee, ist schon okay“, murmelte ich und bückte mich, um Steine einzusammeln.
Später saßen wir nebeneinander in Halbreich und warfen die Steine ins tote Wasser. Sie saß mit ihrem weißen Kleid mitten auf der Erde. Sie fröstelte. Da zog ich, ohne weiter darüber nachzudenken, meine rote Jacke aus und hängte sie ihr um.
„Wollen wir Freunde werden?“, fragte sie und richtete ihren Blick auf mich.
Irgendwas, dachte ich, irgendwas stimmt hier nicht! Ich kam einfach nicht drauf! Mein Blick flog über sie, über dieses Kleid, das so schrecklich feierlich aussah und gar nicht zu ihr passte. Es war ziemlich schmutzig, hatte aber feine Spitze am Ärmel, und um die Taille war ein Seidenband geflochten. Es sah aus, als hätte sie es einer Braut gestohlen. Mein Blick flog über ihr Zottelhaar, die schmutzigen Nägel, abgebissen und hässlich, über die aufgeschlagenen Knie und diese papierweiße Haut. Das dünne Gesicht. Spitz wie ein Eichhörnchengesicht. Als hätte sie … als hätte sie … schon lange nichts mehr gegessen.
Ich sprang auf.
„He“, sagte sie. „Was ist los?“ Ich stolperte aus Halbreich heraus.
„Ich muss … nach Hause …“, stotterte ich.
Ich nahm ihr nicht mal die Jacke ab. Als ich mich auf der Wiese noch einmal umdrehte, winkte sie.
- - -
Ina bekam anhand der Morastflecken auf meiner Hose heraus, wo ich gewesen war.
„Der Weiher ist kein Spielplatz!“ Sie rauchte und aschte auf einen kleinen Unterteller. Der Teller war schon voll. Sie saß im Schankraum zwischen lauter Farbeimern und Farbrollen und zog mich mit einer Hand heran. Sie drückte mich so fest an ihre Brust, dass es an den Ohren wehtat.
„Willst du ertrinken, oder was?“, sagte sie schrill. Ob vor Angst oder vor Ärger war nicht klar. „Du gehst da nicht mehr hin! Das ist eine Regel. Du weißt doch, was eine Regel ist?“ Ich riss mich los. „Bleib da! Ich bin noch nicht fertig!“ Ich blieb stocksteif stehen. Ina drückte die Zigarette so heftig auf dem Teller aus, dass die alten Filter über den Rand rutschten. „Mein Gott, warum gibt es in diesem ganzen Haus eigentlich keinen einzigen gottverdammten Aschenbecher! Das ist doch ein Gasthaus hier, oder etwa nicht?“
Ich ging rückwärts. Langsam. An der Wand entlang, die Carsten und Ina erst geweißt hatten und dann bunte Flecken darauf gemalt hatten, als hätte jemand Farbbomben an die Wände geworfen.
„Das ist modern“, hatte Ina zu Ma gesagt. „Holzwände sind so was von out – damit vergraulst du alle.“ Als ich auf der Schwelle stand, sagte ich: „Es gibt hier keine Aschenbecher, weil sie so groß wie eine Faust sind!“ Dann drehte ich mich um und rannte nach oben.
- - -
Es hatte so gut angefangen. Inas und Carstens Liebenswürdigkeit. Die Aufregung, die sie aus der Stadt mitgebracht hatten. Ihre geräuschvolle Art. Aber manche Dinge, die gut anfangen, werden später ungenießbar. Wie die Eierpflaumen, wenn sie im Sommer vom Baum fielen und niemand sie aufsammelte. Sie platzten, sie gärten, sie verströmten den widerwärtig süßen Geruch von Fäulnis. Sie zogen Ungeziefer an.
Carstens und Inas Beschluss, ihre Stadtwohnung aufzugeben, um für immer in den Anker zu ziehen, musste von vornherein einen zweiten, geheimen Beschluss enthalten haben. Einen Beschluss, der mich betraf.
Ich entschied, trotz der neuen Regel wieder zum Weiher zu gehen. Ich brauchte meine rote Jacke zurück. Ich hatte sie von den beiden bekommen. Wenn sie herausfanden, dass ich sie einfach verborgt hatte, würden sie wieder ausrasten. Aber nicht nur deshalb wollte ich
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