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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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grün. Und du hast niemanden gefragt …“
    „Das war doch was ganz anderes“, sagte Ina. „Das war Auflehnung! Außerdem war ich drei Jahre älter.“
    Seit ein paar Tagen waren Sommerferien, und ich hatte ständig Hausarrest. Immer wegen Kleinigkeiten. Immer ein Verstoß gegen irgendeine Regel.
    Wenn ich heimlich aus dem Fenster kletterte, zog es mich zum Campingplatz.
    Der Campingplatz war neu seit dem letzten Jahr. Der Elberadweg war ausgebaut worden, und plötzlich kamen Ausflügler ins Dorf. Für die war auch der Campingplatz gedacht. Er war am Waldrand errichtet worden, auf einer Wiese, ganz in der Nähe des Weihers. Die Gemeinde hatte ein Toilettenhäuschen und zwei Duschen dort gebaut, eine kleine Küche und einen Feuerplatz. Es gab Strom.
    „Da sind sie!“, hatte Carsten im letzten Jahr gesagt, als die ersten ins Dorf gerollt kamen. Er hatte es gesagt, wie man „Hurra!“ rief.
    Carstens heimlicher Traum war zwar, aus dem Anker eine Raststätte für Biker zu machen, das hatte er Ma und mir an dem Tag erzählt, als er eine Harley-Davidson-Flagge an dem Fahnenmast vorm Haus hochzurrte. Doch genauso wenig, wie der Weiherweg die Route 66 war, gab es Biker, die es nach Schönewalde verschlug. Und so hatte Carsten sich wohl oder übel damit abgefunden, Radler bedienen zu müssen.
    Er hatte an ein Jahrhundertgeschäft geglaubt. Er hatte rote Sonnenschirme liefern lassen. Er hatte Biergartentische und Stühle bestellt und drei nagelneue Liegestühle aufgestellt. Er hatte sogar überlegt, Sand heranzufahren und eine Art künstliche Strandlandschaft zu imitieren.
    Als die ersten Radler kamen, hatte er in der Tür gestanden und ihnen breit entgegengelächelt. Doch die Radler fegten am Anker vorbei. Sie fegten vorbei, einer nach dem anderen, Tag für Tag. Nur selten hielt mal einer an, kam herein und trank eine Cola oder eine Apfelschorle, stieg dann wieder aufs Rad, um den Weg zum Campingplatz einzuschlagen, wo später feiner Lagerfeuerrauch aufstieg, wo Gitarre gespielt, Bratwürste gegrillt und Biere getrunken wurden, und alles hatten sie im Kiosk am Campingplatz gekauft. Da hatte Carsten aufgehört zu lächeln. Und als dieses Jahr der Sommer begann und die ersten Radler auftauchten, sagte er nur noch „Scheißcamper!“ und spuckte auf den Boden. „Gucken nur, kaufen nix.“
    Der Kiosk war eigentlich nur ein Klapptisch vor einem Bauwagen und gehörte Jamie, einem Aussteiger, den alle in der Schule cool fanden. Ich auch. Jamie war zwanzig. Keine Ahnung, wie er wirklich hieß, alle nannten ihn nur Jamie. Bevor es den Campingplatz gab, hatte sein Bauwagen auf dem ehemaligen LPG-Gelände gestanden. Das Gelände lag brach, Unkraut überwucherte die Ställe, niemanden störte es, dass Jamie dort wohnte. Vor dem Wagen hatte er einen Sessel aufgestellt. Im Winter war er mit einer Plane bedeckt, aber sobald die Tage wärmer wurden, zog Jamie die Plane ab und verlagerte sein Leben von drinnen nach draußen.
    Dieser Sessel war ein Monstrum in Lila, das er wahrscheinlich mal aus dem Müll gezerrt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand sich so etwas freiwillig in die Wohnung stellte. Wann immer man an der LPG vorbei kam, saß er da. Die Beine über die Seitenlehne geworfen, spielte er Gitarre, las irgendeinen Schmöker, rauchte. Manchmal hatte ich ihn Übungen machen sehen. Wie er in die Luft boxte, Liegestütze machte, aber nie lange. Er sah nicht sportlich aus, dafür hockte er einfach zu viel rum, aber er war lässig. Auf eine Art gutaussehend, die Ina nicht mochte. Die langen Haare, die Tätowierungen auf den Armen, das rote Tuch, das er als Sonnenschutz um den Kopf gebunden trug.
    Als Ina über Jamie herzog, sagte Ma nur kurz: „Früher hast du genau auf solche Jungs gestanden.“ Ich staunte.
    „Ach, Quatsch“, sagte Ina. „Ich hab nie auf Assis gestanden, sondern auf wilde Typen. Der da ist doch garantiert schon ganz verlaust.“
    Schon weil Ina ihn verabscheute, mochte ich ihn. Nicht, wie die Mädels aus den höheren Klassen ihn mochten, anders. Ich wollte ihn nicht küssen oder so. Ich wollte wie er sein. Ich glaube, die Jungs aus der Zehnten wollten das auch. Ich sah sie oft aus meinem Fenster mit den Mopeds auf das alte LPG-Gelände knattern.
    „Wovon der wohl lebt?“, fragte Ina.
    „Der bettelt und klaut sich was zusammen“, sagte Carsten.
    „Ach was“, sagte Ma. „Du weißt doch gar nichts über ihn.“
    „Ich weiß, dass er zwei Hände hat, um zuzupacken, und dass er gesund

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