Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
groß oder viel zu klein, bis Ina die Geduld verlor und mich wieder hochschickte.
In meinem Zimmer schrieb ich Briefe an Jamie und Karina, die ich nicht abschickte, sondern in meinem Schreibtisch versteckte, lange, verliebte Briefe, auf die ich Kleeblätter klebte, und währenddessen wartete ich ungeduldig auf die Abende, wartete, dass die trinkenden Gäste eintrafen, dass Carsten und Ina aufhörten, an meine Tür zu klopfen und zu verlangen, dass ich runterkam und irgendwas arbeitete – die Tische im Biergarten abwischte, den Gehweg vorm Gasthof fegte, Gläser polierte. Ich wartete auf den Moment, wenn Carsten den Riegel vor meine Tür schob. Dann flüchtete ich übers Klavier aus dem Fenster zum Campingplatz.
Während ich bei Ina und Carsten immer mein abschreckendstes Schlechte-Laune-Gesicht aufsetzte, sobald ich am Tresen helfen oder die Gäste bedienen sollte, schenkte ich bei Jamie die Getränke aus wie eine geborene Wirtin. Ich lachte die Radler an, ich gab das Wechselgeld mit einem Scherz raus. Wenn Jamie pfeifend am Grill stand, sammelte ich die herumstehenden Bierflaschen wieder ein. Manchmal fegte ich sogar den Bauwagen aus.
Jamie spielte mir später was auf der Gitarre vor, das heißt, er spielte für alle, die sich um den Sessel versammelten, aber ich saß neben ihm auf der Armlehne und wünschte mir die Titel.
Ich hatte also plötzlich einen Freund. Aber das war nicht alles. Ich hatte auch eine Freundin. Denn wenn Karina kam, scheuchte sie mich nie weg. Ich weiß nicht, was sie in mir sah, aber auf keinen Fall eine Konkurrentin. Sie lachte mich an, fuhr mir durchs Haar, und während ich das bei Ina hasste, hielt ich bei Karina ganz still und wünschte mir, sie würde ihre Hand für immer da liegen lassen.
Wir waren ein seltsames Gespann. Jamie, Karina und ich. Wenn Karina und Jamie im Bauwagen verschwanden, stand ich hinterm Klapptisch und passte auf, dass alle die Getränke auch bezahlten, die sie sich nahmen. „Na“, fragte einmal einer der Radler mit einem komischen Grinsen in Richtung Bauwagenfenster. „Da hat dein Freund dich wohl abgeschrieben?“
Idiot, dachte ich, stellte das Bier auf den Tisch und sagte zuckersüß: „Wie kommen Sie denn darauf, dass Jamie mein Freund ist?“ Er ist mein Bruder, dachte ich. Ich lächelte, doch am liebsten hätte ich ihm das Bier ins Gesicht geschüttet.
Der Gedanke, dass Jamie mein Bruder sein könnte, fing an, mir zu gefallen. Das brachte mich beiden noch näher. Ihm. Und ihr.
Wenn Karina und Jamie aus dem Bauwagen kamen und alle anderen sich in ihre Zelte zurückgezogen hatten, weil sie am nächsten Morgen früh aufbrechen wollten, saßen wir noch zu dritt am Weiher. Die Frösche quakten.
Es war ein unglaublicher Sommer. Selbst gegen Mitternacht war es noch warm. Zwar war die glühende Hitze dann aus der Luft gewichen, hatte aber einer drückenden Schwüle Platz gemacht, die die Mücken anzog. Es roch nach den Algen aus dem Weiher, es roch nach Laich und noch nach etwas anderem. Etwas Schwelendem, das unter allem lag, unter diesen maßlosen Sommertagen, nach etwas, das nur darauf wartete, aufzuflammen. Aber das wusste ich noch nicht.
Der Mond beleuchtete die fettgrüne Wiese. Der Boden war warm, er gab noch die Hitze des Tages ab, und Karina rieb Jamie mit Mückencreme ein, dann rieb sie mich ein. Dann legte Jamie seinen Kopf in ihren Schoß, und sie pflückte ein Huflattichblatt und streichelte sein Gesicht oder beugte sich über ihn, um ihn zu küssen. Einmal machte ich ein Foto von ihnen mit Papas alter Polaroidkamera. Ich fotografierte sie, wie sie so lagen – ineinander verknäult, die Hände überall. Sie fuhren auseinander, als der Blitz sie traf, und als das Polaroidfoto unten herausgefahren kam, lachten sie und zogen mich zu sich herunter, zogen mich zwischen sich, und wir sahen uns das Foto an.
„Das ist aber nicht jugendfrei“, sagte Karina grinsend und überließ es mir. Ich schob es in meine Gesäßtasche, lehnte mich an Jamie an und fühlte mich gut. Sie schickten mich nie weg, und ich hatte nie das Gefühl, das fünfte Rad am Wagen zu sein.
Ich sah Karina an, wie sie Jamie küsste, sah seinen ausgestreckten, entspannten Körper, die Tätowierungen an seinen Oberarmen, die zu leben anfingen, wenn er die Schultern bewegte, das schwarze Haar. Ich war nicht eifersüchtig. In diesen Stunden zwischen Abend und Mitternacht, wenn ich bei Karina und Jamie war, war ich glücklich.
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Die Hitze dieses Sommers erreichte
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