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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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hätte. So aber saß ich nur am Tisch, aß meine Suppe und antwortete nicht, weil Carsten mich dasselbe fragte wie eben, als könnte ich plötzlich eine andere Antwort haben. Ich aber hasste es, Dinge doppelt zu sagen.
    „Marie hat sie total vertuttelt“, sagte Ina. Sie sprach so, als würde ich gar nicht mit am Tisch sitzen.
    „Sie weiß nicht, was Werte sind“, bestätigte Carsten. „Sie würde wahrscheinlich auch einen Hundertmarkschein vergraben.“
    „Kein Wunder“, sagte Ina. „Sie kommt ja auch nicht in Kontakt mit der Realität. Sie hängt nur im Wald rum. Marie gibt ihr keine richtigen Aufgaben, bereitet sie auf nichts vor. Wenn man nichts dagegen unternimmt, seh ich schwarz. Wie soll sie sich denn später mal durchsetzen?“, sagte sie. „Marie kümmert das gar nicht. Sie ist und bleibt ein sturer Hahn.“
    „Sture Hähne geben keine gute Suppe“, sagte Carsten.
    Ich starrte auf meinen Teller und dachte: Ihr sollt Ma ja auch nicht essen.
    - - -
    Carsten und Ina fuhren eines Morgens im Januar ab.
    Als sie fort waren, sagte Ma: „Sie werden den Anker übernehmen.“
    „Nein!“
    „Jetzt kann ich ihnen noch alles zeigen. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste.“
    „Ich will nicht, dass die wiederkommen!“
    „Mila, jetzt hör mal zu. Hier fehlt ein bisschen … frischer Wind. Junges Volk. Es wird wieder Tanz geben, jedes Wochenende. Und sie werden eine Bar im Saal einbauen. Sie haben Kraft und neue Ideen, sie sind jung, Mila.“
    Sie verschwieg mir etwas, ich war mir sicher, aber als ich weiterfragte, lachte sie. Sie strich mir über den Kopf, ließ dann Wischwasser in einen Eimer und verschwand damit in den Schankraum. Darin bestand die Macht von Erwachsenen: Sie konnten einfach weggehen.
    - - -
    Als Carsten und Ina zurückkamen, war es Anfang März. Als Erstes räumten sie die Holztische und Stühle aus dem Schankraum. Sie hatten lauter neue in einem Möbelwagen mitgebracht. Schwarz und mit Metallbeinen. Sie wollten auch das Klavier entsorgen, aber das ließ Ma nicht zu.
    „Das ist Vaters“, sagte sie. „Das hat sogar den Krieg überlebt.“
    „Ach, das alte Ding“, sagte Ina verärgert. „Da hat doch nie einer drauf gespielt! Das hat doch schon in Dresden nur rumgestanden. Es nimmt nur Platz weg! Wir könnten da noch einen Tisch hinstellen. – Jetzt sei nicht so sentimental!“
    Aber Ma blieb hart, und als Carsten vorschlug, das Klavier müsse ja nicht weggeworfen werden, aber es könne doch in meinem Zimmer stehen, damit im Schankraum mehr Platz war, war sie einverstanden.
    Danach räumten Carsten und Ina den Dachboden aus. Sie räumten die Sessel, die Kisten und Truhen heraus, die Schachteln und Kiepen und Koffer, die alten Lampen und den Weihnachtsbaumschmuck, sie trugen alles in den Hof und warfen es übereinander, bis der Dachboden leer war und traurig und ausgehöhlt wirkte. Dann bestellten sie den Sperrmüll.
    Ina nahm Papas Zeichnungen von den Wänden, sie pflückte Goldlack, Trompetenbaum und lila Disteln. Die Schierlinge im Schankraum. Zaunrinde und den Lerchensporn in meinem Zimmer. Sie hängte auch Mas schöne Geschirrtücher ab. Dummheit, die man bei anderen sieht, wirkt meist erhebend aufs Gemüt. Und: Wer immer Recht hat, wird sehr einsam.
    Ich protestierte nicht. Aber ich war wütend. Total wütend! Ich rannte aus dem Haus zum Weiher. Den Friedhof hatten sie irgendwie beschädigt. Kaputt gemacht, dachte ich, aber der Weiher gehörte immer noch mir!
    Als ich die Zweige der Trauerweide zur Seite schob, blieb ich erschrocken stehen. Ein Mädchen stand mitten in Halbreich und schob Unrat mit den Füßen raus. Sie hatte ein weißes Kleid an, keine Jacke, und über ihre Stirn zog sich ein Streifen Dreck.
    Ein weißes Kleid, dachte ich. Wer trug denn freiwillig ein weißes Kleid? Sie sah aus, als wäre sie von einer Kommunion abgehauen.
    „Hi“, sagte sie, als sie mich sah. „Hier sieht’s ja aus!“ Ich fühlte mich ertappt und sah mich um. Es roch intensiv nach etwas Verrottetem. Im Laufe meiner langen Abwesenheit war Laub hineingeweht, das schwarz geworden war, nun vor sich hinglitschte und anfing zu faulen. Sie summte ein bisschen. Ein lila Haargummi hing schief in ihrem verfilzten Haar. Sie stellte sich nicht vor, und sie fragte auch nicht, wer ich war. Sie wischte einfach weiter mit ihren Füßen herum, schubste Zweige und Vogelkot fort, kickte braune Moosstücke hinaus, schleuderte eine schlammige Plastiktüte weg. Nur meine Geheimschrift aus Kieseln ließ sie

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