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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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Jahrhundertwerte. Die Temperatur stieg von Tag zu Tag – als läge dieser Juli in einem Fieber. Und während ich selbst innerlich immer überdrehter wurde, verlangsamte sich alles um mich herum. Versiegte. Die Hühner legten keine Eier mehr, und die Spatzen flogen nicht. Sie hüpften mit hängenden Flügeln über den staubigen Hof. Die Zitronencreme, die Ina am Morgen gemacht hatte, hatte mittags schon einen Stich. Die Katzen lagen wie betäubt auf den schattigen Treppenstufen, die Bäuche auf den Beton gepresst, sie hoben nicht einmal die Köpfe. Die Wäsche wurde brüchig in der Sonne, und Ma spannte die Laken nur noch in der Scheune auf. Ina stand an der Pumpe im Garten, sie goss Wasser in das Pumpenloch, um das Wasser aus der Erde zu locken, sie bewegte den Schwengel – dreißig, vierzig Mal, und hatte immer noch keinen Erfolg, und erst wenn sie anfing zu schimpfen, kam es – widerwillig, speiend, in einem heißen Schwall.
    Im ganzen Dorf roch es nach glühendem Stroh, das Korn gedieh nicht, es war im Frühjahr gewachsen und verdorrte jetzt. Tagsüber stand Carsten missgelaunt in der Tür und schaute auf die Straße. Die Straße war ausgestorben, kein Gast kam, der Anker blieb leer. Die Radler zogen wie immer vorbei, Richtung Campingplatz. Aus dem Fenster sah ich ihnen nach.
    Erst zur Abenddämmerung erschienen die ersten Männer aus dem Dorf. Wenn die Hitze nachließ. Sie holten Bier vom Tresen und standen in Gruppen im Biergarten. Sie setzten sich nicht auf die weißen Plastikstühle mit den roten Polstern darauf. Sie standen einfach nur herum. Sie murmelten von der Hitze, sie murmelten von Unheil, immer sprachen sie vom Sommer – es gab kein anderes Thema. Später sahen sie nur noch in den Himmel, nachdenklich und stumm, und ein jeder schien auf etwas zu warten. Auf eine Veränderung, auf Regen, auf ein Wunder.
    Es war ein Sommer wie eine geheime Verschwörung gewesen. Er brannte im Haar, er backte das Grün aus dem Gras. Teer tropfte von den Dächern. Er saß in meinen Poren und floss mit dem Schweiß herab. Ich schluckte ihn, Brennnesselsommer, Mückensommer, er war ein beständiger Juckreiz, alle Fenster standen auf, und ich schlug nach den Insekten, ich rannte im oberen Stockwerk umher, rannte auf den Dachboden und kam staubig zurück, ich lachte hysterisch und kratzte mich immerzu. Ich hatte keinen Hunger mehr, nur noch Durst. Ich war leicht und fühlte mich fast durchsichtig vor Glück. In jenen Tagen hatte ich das Gefühl gehabt, ich könnte alles, selbst fliegen. Ich war nicht mehr vorsichtig. Ich war übermütig geworden.
    So übermütig, dass ich eines Abends, als ich vom Fensterbrett in den Baum sprang, plötzlich daneben griff und die vier Meter nach unten stürzte.
    Der Krankenwagen. Die Liege. Carstens und Inas Gesichter. Der Schmerz, und ich hatte nicht geweint.
    Der Tag, an dem ich im Krankenhaus war, war auch der Tag, an dem Ina und Carsten mein Fenster verschraubten. Sie hatten einfach Schrauben durch den Rahmen gebohrt, und jetzt ließ sich das Fenster nicht mehr hochschieben. Als ich mit einem Gipsbein zurückkam, war es zu. Nur die kleine Dachgaube ließ sich noch öffnen. Sie war zu schmal für mich. Sie war zu schmal für jeden.
    Ich war sprachlos vor Zorn. Wo war Ma? Warum war sie nie da, wenn ich sie brauchte! Ich sah die beiden an. Die Hitze gloste, und da war etwas im Raum, irgendeine geheimnisvolle Substanz, dichter als Luft.
    Ina sagte: „Wir wollen nur, dass dir nichts passiert.“
    „Und ich?“, sagte ich bebend. „Weißt du eigentlich, was ich will?“
    „Na, dann pack mal aus“, sagte Carsten. Er stand vor mir. Er hielt meine Briefe in der Hand. All die Briefe, die ich an Jamie und Karina geschrieben hatte. Ich wurde blass. Er blätterte sie vor meinen Augen durch und zeigte mir die Seite, auf die ich das Polaroid geklebt hatte.
    „Ich war heut draußen, am Campingplatz“, sagte er leise. „Hab mit deinem Freund hier gesprochen. Hab ihm gesagt, wenn er nicht macht, dass er Land gewinnt, hat er ganz schnell einen Haufen Ärger am Hals. Nicht nur wegen Schwarzarbeit, sondern wegen Verführung Minderjähriger. Da geht’s dann nicht nur ihm an den Kragen, sondern auch ihr hier.“ Er tippte auf Karina und als er ihr sagte, klang es, als würde er über eine widerliche Krankheit sprechen.
    „Du hast dich rumgetrieben, hinter unserem Rücken, Milana!“, rief Ina. „Du hast uns hintergangen! Und wir haben gedacht, wir können dir vertrauen.“ Sie stand vor mir, die

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