Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Schwester hat mich aus der Schule gerissen: „Ab heute gehst du mit mir Taschentücher verkaufen.“
Hefte und Stifte sind zu teuer. Ich beginne meiner Schwester zu helfen.
Das war vor sechs Jahren. Heute bin ich vierzehn.
Meine Schwester bestimmt mein Leben. Ich suche sie, sie ist eine kleine magere Hündin geworden, und sie läuft vor mir davon. Sie ist die Einzige, die das kann, denn die Dschinnija hat Macht über sie.
Meine Mutter hätte mir das niemals angetan. Sie hätte mich an ihr Herz gezogen, dort hätte ich mich ausruhen können.
Meine Schwester ist neidisch, aber sie kann doch sichergehen, dass im wirklichen Leben die Dschinnija immer zu spät ist. Heute ist die Dschinnija Anastasia gekommen. Sie hustet durch unser verschleiertes Viertel und fragt nach mir. Auf die Treppenabsätze spuckt sie krankes Wasser. Sieht sie denn nicht den großen Blutfleck auf der Straße? Es ist der Teufel gewesen. Ich muss sie warnen, denn nun ist er hinter ihr her.
Wie nach einer lustvollen Rauferei richteten Anastasia und der junge Mann ihre Kleider. Anastasia zog sich eine frische Bluse über und begann ihre Frisur erneut herzurichten.
„Was ist nun, brauchst du Geld? Ich hätte einen Auftrag für dich.“
Frisch toupiert trat sie in den Wohnraum.
Aber das Herz lässt sich nicht toupieren.
„Was für einen Auftrag?“
Von Ferne erklärte er ihr, was sie für ihn tun sollte, aber sie hatte das Gefühl, dass es nur die halbe Wahrheit war.
Er war aufgestanden, auf ihren winzigen Balkon gegangen und zündete sich nun eine Zigarette an. Er hielt ihr das Päckchen hin.
Anastasia fühlte sich, als hätte sie eine eiskalte, zähe Flüssigkeit geschluckt.
„Was für eine Behandlung?“
Sie begann ebenfalls zu rauchen, blieb aber mit der Zigarette dort stehen, wo sie war. Walid ging gar nicht auf ihre Frage ein.
„Du hast doch sonst nichts mehr zu tun.“
Er soll gehen und zwar sofort, dachte Anastasia und griff sich nervös ins Haar. Außerdem fühlte sie einen Druck im Magen, irgendetwas wollte da den Hals hoch.
„Mir geht es ausgezeichnet, danke, und jetzt geh bitte“, sagte sie mit fester Stimme und ließ vor Aufregung Asche auf den Boden fallen.
„Wir könnten zusammen sehr viel Geld machen.“
Es half nichts, sie musste sich übergeben, und zwar genau da, wo sie stand. Und die bittere Fontäne landete auf seinen italienischen Schuhen.
„Pass doch auf!“, rief er und verschwand in ihrem Bad.
Anastasia spürte, dass er sie in dunkle Geschäfte hatte hineinziehen wollen. Der Sex zwischen ihnen hatte die süße Fessel werden sollen, das ersehnte Zuckerbrot, das Bestechungsgeld. Aber Walid hatte sich geirrt. Der Sex bedeutete Anastasia nichts.
Seit diesem Vorfall wagte sie nicht mehr, nach Kairo zu fliegen.
Sie wollte nicht einmal wissen, welcher Art Walids Geschäfte genau waren. Anastasia verfluchte den Moment der Schwäche, in dem sie sich erlaubt hatte, die Kontrolle über ihr Verhalten zu verlieren.
Noch etwas anderes drohte kurze Zeit später, Kontrolle über ihr Herz zu gewinnen. Es wurde krank.
Am Tag danach bemerkte sie ein Ziehen in den Beinen, das sich den ganzen Tag über verschlimmerte. Abends hatte sie geschwollene Fesseln, schwer und dick wie mit Wasser gefüllte Luftballons. Über Nacht wurde es besser, aber auch am nächsten Tag schwollen die Fesseln wieder langsam und stetig an. Anastasia unterließ es allerdings, den Arzt aufzusuchen. Sie war es nicht gewohnt; als Apothekertochter hatte sie immer genügend Medikamente im Haus gehabt. Außerdem hätte jeder Mediziner ihr geraten, das Rauchen aufzugeben. Sie beschloss, es mit einem harntreibenden Tee zu versuchen.
Und sich in das, was man Altwerden nannte, zu ergeben.
Anastasia besuchte ihre Familie nicht mehr. Sie gab vor, einen der Flüge verpasst und einen anderen vergessen zu haben. Ihre Schwester Nadja begann sich Sorgen zu machen und fragte sie aus.
„Wie alt bist du? Wo wohnst du? Wie viel wiegst du? Wo bist du geboren?“
Offenkundig dachte Nadja, sie sei an Alzheimer erkrankt. Anastasia bemühte sich nicht, sie aufzuklären, beantwortete lediglich geduldig ihre Fragen.
Ein andermal gingen Nadjas Fragen in eine deutlich andere Richtung.
„Willst du nicht doch irgendwann heiraten? Hast du einen Freund? Wohnt noch jemand bei dir?“
„Was soll die Fragerei?“, rief sie aufgebracht ins Telefon, aber in Wahrheit beschlich sie die irrationale Angst, Nadja könnte etwas von ihrer kurzen falschen Leidenschaft gehört
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