Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
Die Aurënfaie waren entrüstet, und seither waren die Beziehungen der beiden Länder nicht mehr dieselben.
Königin Lera war eine strenge und knauserige Frau. In ihren achtzehn Regierungsjahren hatte sie mehr Leute hinrichten lassen als jede andere skalanische Königin in der Geschichte Skalas.
Ironischerweise überlebte ihre Halbschwester drei Mordversuche, während Lera selbst im Kindbett starb, als sie einen totgeborenen Jungen zur Welt brachte. Trotz Revolutionsdrohungen wurde Corruthesthera aus dem Exil zurückberufen und als einzige überlebende Erbin gekrönt.«
Alec dachte eine Weile nach. »Das bedeutet, daß die Königinnen, die danach kamen, Aurënfaieblut in den Adern hatten?«
Seregil nickte. »Corruthesthera bevorzugte die Rasse ihres Vaters; man sagte, sie sah mit fünfzig Jahren noch aus wie ein junges Mädchen.«
»Wie meinst du das?«
»Nun«, erklärte Seregil, »die Aurënfaie leben nicht nur zwei- oder dreimal so lange wie wir Menschen, sie werden auch viel langsamer reif. Ein achtzigjähriger Mensch steht bald vor Bilairys Tor, wohingegen ein Aurënfaie im selben Alter noch als jung gilt.«
»Sie müssen sehr weise werden, wenn sie so lange leben.«
Seregil lächelte. »Weisheit hat nicht notwendigerweise mit hohem Alter zu tun. Trotzdem muß es von Vorteil sein, auf das Wissen von drei Lebzeiten zurückgreifen zu können.«
»Wie lange lebte Corruthesthera?«
»Mit einhundertsiebenundvierzig Jahren starb sie während einer Schlacht. Königin Edrilain die Zweite ist ihre Großenkelin.«
»Dann stimmte, was Tym sagte, es gibt noch Leraner.«
»Aber ja, obwohl sie noch nichts weiter erreicht haben, abgesehen von dem einen oder anderen Meuchelmord. Aber sie bringen es nach wie vor fertig, hier und da Ärger zu machen. Durch den bevorstehenden Krieg sind sie sogar noch gefährlicher. Und nicht nur für die Königin. War Barien allein?«
»Nein, Phoria, die älteste Prinzessin …«
»Königliche Prinzessin«, korrigierte Seregil, und drehte nach wie vor sein Glasstäbchen. »Sie zieht den Titel General vor. Man spekuliert schon seit Jahren über sie und Barien. Aber sprich weiter.«
»General Phoria war bei ihm und sein Neffe.«
»Lord Teukros?« höhnte Seregil. »Hier hast du ein Muster skalanischen Adels; Neffe und einziger Erbe des mächtigsten Lords in Rhíminee; Sproß einer der ältesten skalanischen Familien, nicht ein Tropfen fremden Blutes in den Adern. Perfekte Manieren, teuren Geschmack und den Verstand einer Flunder. Abgesehen davon ist er Spieler, ich habe ihm mehr als nur einmal Geld abgenommen.«
»Er ist Bariens Erbe?«
»Ja. Der Vizekönig ist kinderlos und liebt den Sohn seiner Schwester abgöttisch. Barien ist kein Narr, aber Liebe entschuldigt vieles, wie man sagt. Das beweist, daß der Adel noch lernen muß, was jeder Schweinezüchter längst weiß, daß man auch gelegentlich außerhalb züchten muß.«
19
Beunruhigende Geheimnisse
Seregil genoß die vertrauten morgendlichen Gerüche im Turm, als er und Alec am nächsten Tag auf dem Weg zum Arbeitszimmer waren – das Duftgemisch aus Weihrauch, Pergament, Kerzenrauch und Kräutern wurde von den Aromen des bevorstehenden Frühstücks überlagert.
Oben schien die Morgensonne durch die bleiverglasten Scheiben der Kuppel und tauchte das Durcheinander im Zimmer in ein gemütliches Licht. Nysander saß auf seinem Stammplatz am Kopf des am wenigsten beladenen Tisches.
Er hielt seine Tasse in beiden Händen und unterhielt sich mit Thero.
Ein bittersüßer Stich durchzuckte Seregil. Als er noch bei Nysander lernte, saß er jeden Morgen auf dem Platz, den Thero nun einnahm, und genoß die morgendliche Ruhe, während Nysander die Aufgaben des Tages festlegte. In diesen Momenten hatte er zum erstenmal im Leben gefühlt, daß er zu jemandem gehörte, daß er willkommen war und etwas leisten konnte.
Diese Gedanken erfüllten ihn plötzlich mit Schuldgefühlen, als ihm ein Stück Pergament einfiel, das er sorgfältig unten in seinem Reisesack verstaut hatte. Seregil verdrängte diesen Gedanken.
»Guten Morgen, ihr beiden! Hoffentlich seid ihr hungrig«, sagte Nysander und schob ihnen die Teekanne hin. Thero grüßte sie mit einem kühlen Kopfnicken.
Nysanders morgendliche Mahlzeiten im Arbeitszimmer waren im Orëska-Haus wohlbekannt: gebratener Schinken, Honig und Käse, heiße Haferkuchen mit Butter und guter starker Tee. Jeder war willkommen, und hatte man Appetit auf etwas anderes, konnte man es sich
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