Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
Aber in welchem Raum befindet sie sich? Es ist schon so lange her, daß ich hier oben war.«
Edelsteine blinkten in den dunklen Locken der jungen Frau, als sie sich in Alecs Richtung wandte. Weitere Juwelen glitzerten ihn aus dem kunstvollen Collier an, das ihre Brust beinahe bedeckte. Oder genauer, das Collier war nahezu das einzige, das ihre Brust bedeckte. Der Ausschnitt ihres Abendkleides war so tief, daß eine Brustwarze vorwitzig über den goldbestickten und mit Gemmen besetzten Spitzensaum des Kleides hinauslugte.
»Ich muß dir einfach nochmals danken, liebe Tante, daß du mich heute abend mitgenommen hast!« rief das Mädchen. »Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen, als du mich ihm vorstelltest. Ich spüre immer noch seine Lippen auf meiner Hand.«
»Ich hoffe nur, daß dein geschätzter Vater niemals davon erfahren wird«, erwiderte ihre Tante mit einem tiefen, melodischen Lachen. »Ich habe dasselbe empfunden, als ich ihn einst kennenlernte. Er gehört zu den umwerfendsten Männern in ganz Rhíminee. Und so gut sieht er aus! Aber sei vorsichtig, meine Liebe. Keine Frau und kein Mann hat ihn bisher für lange Zeit fesseln können. Doch nun müssen wir nach diesem trefflichen Manuskript suchen. In welchem Raum mag es sich befinden?«
»In diesem hier, glaube ich«, antwortete das Mädchen, und sie ging geradewegs auf die Tür zu, hinter der sich Alec verbarg. Er drückte sich nach hinten an die Wand und schickte ein Stoßgebet zu den Göttern.
»Nun, das ist es wohl nicht«, rief die Tante, als der Kerzenschein ein Schlafgemach enthüllte.
»Ist es sein Zimmer?« hauchte Ysmay und trat auf das Bett zu.
»Das glaube ich nicht. Siehst du diese bemalte Kommode dort? Die stammt aus Mycena. Das ist gar nicht sein Stil. Komm, meine Liebe. Ich denke, jetzt weiß ich wieder, wo wir suchen müssen.«
Sobald die Frauen in einem Zimmer weiter hinten am Korridor verschwunden waren, rannte Alec lautlos zu jenem ersten Schlafzimmer zurück. Er wagte nicht noch einmal, den Lichtstein zu benutzen, doch der hellere Umriß des kleinen Fensters war erkennbar, und so huschte er dorthin.
Er war noch keine drei Schritt weit gekommen, als sich von hinten eine große, schwielige Hand über seinen Mund legte. Eine weitere packte ihn am rechten Arm und bog ihn hinter seinen Rücken, sosehr er sich auch wand und wehrte.
»Halt ihn fest!« zischte eine Stimme irgendwo im Zimmer.
»Hab ihn!« erklang gleich neben Alecs Ohr eine rauhe, tiefe Stimme. Der Griff der Hand über seinem Mund wurde noch fester. »Kein Laut! Und hör mit dem Zappeln auf!«
Ein Lichtstein leuchtete auf, und der Mann hinter ihm riß ihn grob herum, damit er sein Gesicht im Licht sehen konnte. Alec wand sich noch einmal krampfartig, und dann erstarrte er mit einem erstickten Laut des Erstaunens.
Denn dort stand, den einen Arm lässig auf den Kaminsims gestützt, niemand anders als Seregil.
Auf seinen Wink hin ließ der Mann hinter Alec los, und dieser wirbelte herum – und sah Micum Cavish vor sich stehen.
»Bei der Flamme, Junge, du bist ja schlimmer als ein Aal, wenn man dich festhalten will!« rief Micum mit unterdrückter Stimme.
»Hast du die Mappe gefunden?« fragte Seregil.
»Ja, habe ich«, flüsterte Alec zurück, wobei er einen nervösen Blick zur Tür hinüber warf. »Aber was macht ihr hier drinnen?«
Seregil zuckte die Achseln. »Und warum sollte ich mich nicht im eigenen Schlafzimmer aufhalten?«
»Dein eigenes … deines?« spuckte Alec zornentbrannt. »Ich habe all das mitgemacht, um in dein Haus einzubrechen?«
»Nicht so laut! Verstehst du denn nicht? Wir wollten sichergehen, daß du auf eine richtige Herausforderung triffst.«
Alec funkelte die beiden mit hochroten Wangen an, da seine gesamte sorgfältige Arbeit durch sie zu einer lächerlichen Groteske verkommen war. »Indem ich in dein eigenes Haus einbreche? Was für eine Herausforderung soll das denn sein?«
»Reg dich doch nicht so auf«, sagte Seregil gänzlich verwirrt. »Du bist gerade eben in eines der am besten gesicherten Häuser der ganzen Stadt eingedrungen! Ich gebe ja zu, ein paar der eher tödlichen Fallen vorher entschärft zu haben, aber glaubst du, ein ganz gewöhnlicher Dieb hätte all diese Schlösser überwinden können, die du hier vorfandest?«
»Dies ist der letzte Ort, an den wir dich geschickt hätten, wären wir nicht von deinen Fähigkeiten überzeugt gewesen«, fügte Micum hinzu.
Es fiel Alec nicht leicht, das Gehörte zu verdauen. Er stand
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