Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
lauschte dem Wind, der unter den Traufen hindurchpfiff.
»Willst du darüber reden?«
Alec starrte in die Tiefen des Bechers. »Es ist nur ein Traum, der mich heimsucht.«
»Immer derselbe?«
Der Junge nickte. »Vier- oder fünfmal diese Woche.«
»Du hättest etwas sagen sollen.«
»Du bist in letzter Zeit selten ansprechbar«, entgegnete Alec leise.
»Ach, na ja …« Seregil fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich konnte Niederlagen noch nie besonders gut wegstecken.«
»Das mit der Karte tut mir leid.« Der Gedanke daran quälte Alec schon die ganze lange, düstere Woche. »Ich hätte sie mitnehmen sollen, als ich noch Gelegenheit dazu hatte.«
»Nein, du hast damals das Richtige getan«, versicherte ihm Seregil. »Bei dieser Sache hatten wir einfach sehr oft Pech, was den zeitlichen Verlauf der Dinge angeht. Hätte ich mich eher an Rythel herangemacht oder hätte er seinen Tod noch eine halbe Stunde hinauszögern können, hätten wir ihn geschnappt. Aber was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern. Und jetzt erzähl mir von deinem Traum.«
Alec trank einen weiteren Schluck Branntwein, dann stellte er den halbvollen Becher beiseite und berichtete alle Einzelheiten, an die er sich noch erinnern konnte.
»Beim Erzählen klingt es eigentlich gar nicht so schlimm«, stellte er fest, nachdem er geendet hatte. »Besonders der letzte Teil. Aber im Traum fühlt er sich immer wie der schlimmste Teil an. Sogar schlimmer als daß mein Vater …«
Überrascht von dem Kloß in seinem Hals, brach er mitten im Satz ab. Er starrte auf seine Hände hinab und hoffte, daß sein Haar sein Gesicht verdeckte.
Nach einer Weile meinte Seregil sanft: »Du hattest in letzter Zeit einiges zu verkraften, angefangen von der Wahrheit über deine Herkunft bis hin zu der Sache mit Rythel. Der Anblick seiner zermanschten Leiche in der Zelle hat vermutlich ein paar unangenehme Erinnerungen aufgewühlt. Vielleicht erlaubst du dir auf diese Weise nur endlich, den Tod deines Vaters zu betrauern.«
Jäh schaute Alec auf. »Ich habe ihn betrauert.«
»Vielleicht, talí, aber in all der Zeit, die wir schon zusammen sind, hast du ihn noch kaum je erwähnt oder um ihn geweint.«
Alec zupfte am Saum der Decke und war überrascht von der plötzlichen Verbitterung, die ihn erfüllte. »Was hätte es denn für einen Sinn? Weinen ändert gar nichts.«
»Schon möglich, aber …«
»Es würde gar nichts an der Tatsache ändern, daß ich für meinen Vater nichts tun konnte, außer dazuhocken und zuzusehen, wie er gleich einer verbrannten Motte zusammengeschrumpft und in seinem eigenen Blut ertrunken ist …« Der Junge schluckte schwer. »Außerdem geht es in dem Traum eigentlich nicht darum.«
»Nein? Worum dann?«
Kläglich schüttelte Alec den Kopf. »Keine Ahnung, aber darum nicht.«
Freundschaftlich klopfte Seregil ihm auf den Oberschenkel.
»Was hältst du davon, wenn wir uns morgen bei Nysander zum Frühstück einladen? Er kennt sich mit Träumen aus, und wenn wir schon dort sind, könntest du mit ihm und Thero über die Frage deiner Lebenserwartung reden. Bei all dem Wirbel um Tym und Rythel hattest du ja noch kaum Zeit, all das zu verdauen.«
»Es war auch einfacher, nicht darüber nachzudenken«, seufzte Alec. »Aber ich glaube, ich würde mich ganz gerne mit ihnen darüber unterhalten.«
Seregil lag in der Dunkelheit in seinem Bett und lauschte Alecs Atemzügen, während der Junge im Nebenzimmer wieder in den Schlaf hinüberglitt.
»Keine Träume mehr, mein Freund«, flüsterte er auf Aurënfaieisch, und es war mehr als bloß ein hoffnungsvoller Wunsch. Fast vermeinte er, in den Schatten das wirre Getuschel des Orakels zu hören, das immer eindringlicher und klarer über die Wochen und Monate hinweghallte. Der Verzehrer des Todes gebärt Ungeheuer. Hüte wohl den Hüter! Hüte wohl die Vorhut und den Schaft!
Den Schaft. Einen Pfeilschaft, wie jenen, den Alec in seinen Träumen Nacht für Nacht umklammerte – nutzlos und unbrauchbar ohne die Bolzenspitze.
Dieses Bild könnte Tausende unterschiedliche Dinge bedeuten, versuchte er sich einzureden und kämpfte wütend gegen die eigene, hartnäckige Überzeugung an, daß unwiderruflich ein weiterer Würfel in einem Spiel gefallen war, das er noch nicht zu begreifen vermochte.
Vor Sonnenaufgang blies der Sturm sich selbst zurück hinaus auf die See. Die hoch aufragenden, weißen Wände, Kuppeln und Türme des Orëska-Hauses zeichneten sich leuchtend vor einem
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