Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
hatte.
»Was denn, hier?« flüsterte er überrascht.
Seregil lehnte sich an ein Regal und zuckte sorglos mit den Schultern. »So ist es ja doch niemandem nütze, oder?«
Nach einem raschen, schuldbewußten Blick durch den Raum, vergewisserte sich Alec, daß der Wärter nicht zurückgekommen war, zog den Dolch mit dem schwarzen Griff aus dem Stiefel und schob ihn unter das Lederband des Riegels, das die gefährlich scharfe Klinge mühelos durchschnitt. Dann steckte er den Dolch zurück, schlug den Deckel der Schatulle behutsam auf und fand darin ein Bündel loser Pergamentblätter. Sie waren ziemlich fleckig und am unteren Rand angesengt, einige sogar halb verbrannt. Jedes Blatt war beidseitig mit kleiner, schmaler Schrift bedeckt.
»Aura Elustri!« Aufgeregt grinsend, ergriff Seregil den ersten Bogen. »Das ist Aurënfaieisch. Und es sieht aus wie eine Art Tagebuch …« Er las ein paar Zeilen. »Und es handelt eindeutig vom Krieg.«
»Das Pergament ist so vergilbt, daß ich kaum etwas erkennen kann«, meinte Alec und betrachtete ein anderes Blatt. »Ganz abgesehen davon, daß mein Aurënfaieisch alles andere als vollkommen ist.«
»Jeder täte sich schwer, das zu entziffern.« Mit zusammengekniffenen Augen starrte Seregil noch ein paar Lidschläge lang auf den dichten Text, dann schloß er die Schatulle wieder und steckte sie unter den Arm zu dem anderen Buch, das er ausgewählt hatte. Er sah die Bücher durch, die Alec herausgenommen hatte, verwarf alle bis auf zwei und scheuchte den Jungen zurück nach oben; offenbar konnte er es kaum erwarten, sich dem Tagebuch zu widmen.
In der Radstraße zogen sie sich mit einem Vorrat an Wein und Obst in Seregils Zimmer zurück. Nachdem sie Feuerholz nachgelegt und angesichts der frühen Abenddämmerung die Lampen angezündet hatten, begannen sie auf dem Teppich vor dem Kamin, die Pergamentbögen in Augenschein zu nehmen.
Seregil ergriff eine Seite und betrachtete sie eingehend. »Weißt du, was das ist?« fragte er und ließ ein Lächeln inbrünstiger Freude aufblitzen. »Das sind Teile eines Feldtagebuchs, das ein Aurënfaieischer Soldat während des Krieges geführt hat. Alec, das ist ein Augenzeugenbericht über Ereignisse, die sechs Jahrhunderte zurückliegen! Warte nur, bis Nysander das sieht! Ich wette, niemand weiß, daß es dieses Tagebuch überhaupt gibt, andernfalls wäre es bestimmt in einem anderen Gewölbe aufbewahrt worden.«
Stellenweise waren die Seiten wüst durcheinandergeraten, und es bedurfte einiger Anstrengung, sie zu sortieren. Die eigentliche Übersetzung des Textes aus dem Aurënfaieischen ins Skalanische stellte keine Schwierigkeit dar; als schwierig erwies sich vielmehr, die verschnörkelte und oft verschmierte Schrift überhaupt zu entziffern und gleichzeitig Ordnung in das Durcheinander der Seiten zu bringen. Letztlich fand Seregil den offenbar frühesten Eintrag und lehnte sich auf ein paar Kissen auf dem Boden zurück, um laut vorzulesen.
Bald ließ sich erahnen, daß der Autor ein junger Bogenschütze eines Regiments begüterter Freiwilliger gewesen war, das ein ortsansässiger Adeliger zusammengestellt hatte. Zwar hatte er peinlich genau Buch geführt, aber die Einträge handelten überwiegend von Kampfhandlungen und gefallenen Kameraden. Aus dem Wortlaut ging klar hervor, daß die Aurënfaie ihre plenimaranischen Gegner gehaßt hatten, die immer wieder als grausam und rücksichtslos beschrieben wurden. In mehreren gnadenvoll knapp gehaltenen Abschnitten wurde geschildert, wie barbarisch sie gefangene Soldaten und Marketender behandelten.
Die erste Eintragsfolge endete mit einem genauen Bericht darüber, wie der Autor zum ersten Mal Königin Gërilain von Skala zu Gesicht bekam. Er bezeichnete sie als »ein schlichtes Mädel in Rüstung«, nichtsdestotrotz lobte er ihre Führungsqualitäten in höchsten Tönen. Anscheinend sprach er nur Aurënfaieisch, dennoch zitierte er mehrere Zeilen einer wortgewaltigen Ansprache vor den versammelten Truppen, die sie vor der Dritten Schlacht bei Wyvern Dug gehalten hatte und die ihm jemand übersetzt hatte. Die skalanischen Soldaten beschrieb er bewundernd als »wild und voller Feuer«.
Alec lag ausgestreckt auf dem Boden, beobachtete das Spiel der Schatten an der Decke und ließ die Worte in seiner Vorstellung Bilder malen. Als Seregil über Gërilain las, die erste Kriegerkönigin, ertappte er sich dabei, an Klia zu denken, obschon er sie für alles andere als schlicht hielt.
Der zweite
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