Schattengold
Stadtgraben begannen aufzuatmen und neigten sich mit einem zaghaften Grün zur Sonne hin. Selbst in der Innenstadt, wo es schon lange nur noch wenige echte Pflanzen gab, knisterte die kühle Frühlingsluft.
Die Menschen spürten das, als hätten sie eine innere Uhr. Sie gingen langsamer als gewohnt durch die Straßen, hoben ihre Köpfe und lächelten sich sogar hin und wieder gegenseitig an. Selbst in den Gassen, in denen sonst der Kohlgeruch schwebte, roch es jetzt nach Frühling, nach Aufbruch. Für einige Schmetterlingsarten begann die Flugzeit. Hin und wieder verirrte sich ein Kohlweißling in die Hinterhofgärten.
Aina wohnte, obwohl schon volljährig, noch bei ihren Eltern, genauer gesagt, bei ihren Adoptiveltern in einer ruhigen Vorstadtgegend. Dass sie nicht ihr leibliches Kind war, ahnte sie schon seit Längerem. Ein vages Gefühl, ein Anfangsverdacht. Eines Tages wurde sie flüchtig Zeuge einer erregten Debatte zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter. Dabei schnappte sie einen Satz auf, der sie sehr nachdenklich stimmte: »Wir können es ihr noch nicht sagen, dafür ist sie zu jung.«
Sie traute sich nicht, ihre Eltern anzusprechen, weil sie sich ihrer Neugier schämte. Wenn sie vor dem Spiegel stand, war ihr bewusst, dass sie ihnen in keiner Weise ähnelte. Und dann diese merkwürdige Sehnsucht nach der Ferne, nach dem Fremden, die sie schon als kleines Kind fühlte. An der Wand ihres Zimmers hing eine Buntstiftzeichnung, die sie im Kindergarten angefertigt hatte. Sie zeigte sie mit ihrem Lieblingsteddy inmitten eines blühenden Palmenwaldes voller exotischer Tiere. Wie kam sie damals auf dieses Motiv? – Aina wusste es nicht mehr.
Die Eltern erkannten sehr früh Ainas musikalisches Talent und ermöglichten ihr einen ausgezeichneten Gesangsunterricht an der Musik- und Kunstschule in der Kanalstraße, wo eine einfühlsame Lehrerin ihre Liebe zur Musik weckte. Gelegentlich durfte sie im Schulchor und auch im örtlichen Kirchenchor kleinere Solopartien vortragen. Ihre Mutter, Musiklehrerin an der Oberschule, begleitete sie dann.
Die Tochter wuchs unter gut behüteten Verhältnissen auf und entwickelte sich zu einer auffallend schönen jungen Frau. Als dunkler Hauttyp liebte sie es, ihr tiefschwarzes, im Sonnenlicht glänzendes Haar zu einem Pferdeschwanz zu binden. Das betonte nicht nur die hohe Stirn, sondern vor allem auch ihr auffällig stark ausgebildetes Jochbein. Über dem breiten, stets leicht geöffneten Mund schwebten die energisch ausgestellten Nasenflügel. Der lange, gerade Nasenrücken ging über in dichte, aufwärtsstrebende Augenbrauen, die wie zwei frische Palmwedel die großen lilabraunen Augen schützten.
Seit einiger Zeit schminkte sie sich bei öffentlichen Auftritten oder bei besonderen Anlässen einen roten Fleck auf die Stirn, ein Bindi, wie es die Inderinnen tragen. Aina hatte zwar gelesen, dass er ein mystisches ›drittes Auge‹ symbolisiere. Sie schmückte sich jedoch nicht aus religiösen Gründen, ihr gefiel der Punkt ganz einfach. Er verlieh ihren ohnehin fremdländisch wirkenden Gesichtszügen etwas Geheimnisvolles.
Aina war sich ihrer Schönheit kaum bewusst. Sie fühlte sich oft unsicher und einsam. Sie ahnte von ihrer Adoption, obwohl die Eltern nie darüber gesprochen hatten. Das machte sie in ihrem ganzen Charakter schüchtern, sensibel und fast krankhaft selbstkritisch. Hinzu kam, dass sie das Muttermal auf der Innenseite ihres linken Oberarms als Makel, als Stigma empfand. Sie bemühte sich eifrig, es zu verbergen. Nur ihre Mutter wusste davon.
Von Norden her kommend, passierte sie das ehrwürdige Gebäude des Stadttheaters, von dem sie insgeheim hoffte, einmal auf dessen Bühne zu stehen. Kurz darauf kam sie an der Marienkirche vorbei. Gern erinnerte sie sich an die schönen Stunden, als sie hier als Solistin bei Kantatenaufführungen singen durfte.
Die Turmuhr schlug gerade halb zehn Uhr vormittags, als sie den Rathausplatz überquerte. Wenig später erreichte sie das schöne Backsteinhaus, welches das Marionettenmuseum beherbergte. Für die Figuren im Ausstellungsfenster zeigte sie schon immer großes Interesse. Heute sollte sie sie besser unbeachtet lassen, denn die Zeit drängte.
Plötzlich musste sie stehen bleiben. Aus einem der oberen Stockwerke drang wunderbare Musik. Sie erkannte die Melodie sofort: die ›Syrinx‹, das berühmte Solostück für Querflöte von Claude Debussy. Noch nie hatte sie es mit einer derartig packenden Intensität spielen
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