Schattengold
gehört. Alles klang makellos: das gefährlich hohe Es sauber in einem weichen pianissimo intoniert, die arabesken Läufe rhythmisch völlig präzise ausgeführt. Und vor allem: Aina konnte nicht umhin, die verblüffend langen und perfekt gestalteten Phrasierungen zu bewundern.
Sie kannte das Problem vom Gesangsunterricht her. Immer wieder fiel es ihr schwer, größere musikalische Bögen durch die Beherrschung eines gleichmäßigen Luftstromes zu erzielen. Hier schien es, als würde ein Überirdischer musizieren, jemand, der seinen Körper vollkommen im Griff hatte. Nirgendwo eine unästhetische Ecke. Fast klang die Musik wie eine CD-Einspielung. Dennoch handelte es sich zweifellos um eine Live-Darbietung.
Hinter den Gardinen konnte Aina eine menschliche Gestalt erkennen, die der Flöte ohne viel Aufwand die wunderschönen Töne entlockte. Keine theatralischen Arm- und Kopfbewegungen. Es war, als würde der Spieler alle Körperenergie in den reinen Klang stecken. Die bei vielen Musikern übliche affektierte Körpersprache fehlte völlig.
»Wenn ich das doch auch mal so könnte!«
Sie merkte gar nicht, dass sie ihre Gedanken laut aussprach.
Das nur wenige Minuten lange Stück ging schnell zu Ende, auch wenn es Aina wie eine Ewigkeit vorkam. Etwas beklommen setzte sie ihren Weg fort. Diese kleine Begegnung hatte ihr zwar den Weg zur idealen Musik angedeutet, andererseits wurde es ihr jetzt aber umso klarer, wie sehr sie noch am Anfang ihrer Träume stand. Und das ausgerechnet am entscheidenden Tag ihrer Aufnahmeprüfung.
Nur wenige Schritte gegenüber auf der anderen Straßenseite befand sich der Eingang zur Musikhochschule. Bevor die angehende Gesangsstudentin ihn erreichte, bemerkte sie, dass eine auffällig elegant gekleidete Dame mit einem unförmigen Packen von Papier unter dem Arm versuchte, die schwergängige, uralte Eichentür zu öffnen. Dabei fielen ihr ein paar Zettel auf das holprige Kopfsteinpflaster, die durch einen leichten Windstoß vor Ainas Füße wehten.
Sie erkannte die Blätter sofort. Es waren die Noten eines Liedes, das sie zur Aufnahmeprüfung vorsingen wollte. Rasch sammelte sie die Seiten auf und rief: »Entschuldigen Sie, Sie haben etwas verloren. – Richard Strauss, wenn ich mich nicht irre.«
Sie lief zu der eher abwesend dreinschauenden Dame hin und überreichte ihr die Blätter.
»Oh, vielen Dank, sehr aufmerksam. Offenbar verstehen Sie etwas von Musik.«
Die Stimme der Dame klang warm und bestimmt. Ein kurzer Blickwechsel zeugte von gegenseitiger Sympathie. Eilig verschwand sie durch das Portal, das jetzt wie von Zauberhand von dem kauzigen Pedell der Anstalt geöffnet wurde. Aina gelang es nur knapp, ebenfalls schnell durch die offene Tür zu schlüpfen.
»Entschuldigen Sie, wie komme ich zu den heutigen Aufnahmeprüfungen für Gesang?«
Der Patterdale-Terrier zu Füßen des Pedells schnaufte beängstigend.
»Folgen Sie einfach der Dame dort, die will auch dahin!«
Merkwürdige Atmosphäre hier, dachte sich Aina und nahm ohne zu zögern die Verfolgung auf. Über mehrere verwinkelte Gänge, schmale Innenbalkone und ungeschickte Mauerdurchbrüche gelangte sie endlich zu einem kleinen, aber geschmackvoll eingerichteten Konzertsaal.
Sie gesellte sich zu den wenigen Studenten, die dort nervös und voller Lampenfieber mit ihren Notenbündeln im Halbdunkel der Zuschauerreihen kauerten. Jeder vertiefte sich in das Memorieren seiner Prüfungsstücke, keiner nahm von ihr Notiz. Oben auf dem Podium glänzte im Scheinwerferlicht ein B-Flügel. An der Seite waren ein paar Tische angeordnet, vor denen die Prüfungskommission saß und eher gelangweilt die Akten der Prüflinge durchstöberte.
In der Mitte thronte die imponierende Gestalt des Rektors. Aina wusste, dass er ein begnadeter Kontrabassist war, dem nachgesagt wurde, er könne sein schwerfälliges Instrument in eine luftige Stradivari verwandeln. Er machte auf sie einen gutmütigen Eindruck.
Auch die Gesangsdozentin erkannte sie sofort. Die Diva genoss international einen ausgezeichneten künstlerischen Ruf und verhielt sich gerade ihren begabtesten Schülern gegenüber fast krankhaft anspruchsvoll. Als litte sie unter Konkurrenzangst, was bei Sängern allerdings nichts Ungewöhnliches war. Die Gesangsdozentin kaute ungeduldig an ihrem Bleistift, mit dem sie gewohnheitsmäßig die Fehler ihrer Zöglinge in die Noten eintrug.
Aina wurde bange ums Herz.
Die Prüfungskommission bestand noch aus anderen Personen, von denen
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