Schattengott
Der
Wagen am Wegesrand zwischen Zillis und Reischen. Im Schutz der Bäume hatte ein
Unbekannter sie überwältigt, betäubt. Seither war es dunkel.
Sie hatte Angst. Jedes Mal, wenn der Mann zu ihr kam und sie
aufforderte, sich auszuziehen, hatte sie unerträgliche Angst. Doch bisher hatte
er ihr nichts angetan. Er hatte sie lediglich mit einer nach Honig duftenden
Creme eingerieben und ihr zu essen gegeben. Ihre Haut war weich und duftete
süss.
Sie hörte Schritte. Ihr Puls schlug schneller. Ein Schrei. Eine
Frau. Dann Stille. Ein Stampfen. Ein Kämpfen. Oder bildete sie sich diese
Geräusche nur ein? Nein. Die Schritte kamen zu ihr. Das Schloss klickte.
«Was machen Sie mit uns?», fragte sie den Mann, als er zu ihr trat,
aber er sprach wie immer kein Wort. Auch heute trug er eine schwarze Maske;
sein massiger Körper war von einer roten Robe umhüllt, in ihrer Innenseite ein
tiefblauer Himmel mit goldenen Sternen. Darunter alles schwarz. Wie ein Teufel
sah er aus. Und doch auch wie ein religiöser Würdenträger.
Er öffnete den Verschlag an der Seite ihrer Zelle und schaltete
einen Heizstrahler ein. Mit einer einfachen Handbewegung wies er sie an, sich
auszuziehen. Sie wehrte sich schon lange nicht mehr. In den ersten Tagen hatte
sie geschrien und gebissen. Jetzt war das Eincre-men zu einem Ritual geworden.
Sie spürte den Balsam. Ein schauriges Prickeln kroch über ihren
Rücken. Die Hände des Mannes wärmten ihren Körper. Sie wollte sterben vor
Angst, und doch war da auch ein Gefühl der Nähe. Er tat ihr nicht weh. Er tat,
was er tat. Mit unendlicher Ruhe und festen, warmen Händen. Wenigstens eine
Berührung, ein Mensch. Als er fertig war, hielt er ihr die Kleider hin und
brachte ihr einen Teller warmer Suppe. Wie oft hatte sie ihn gefragt, wer er
war. Wo sie waren. Und warum er sie einsperrte. Hatte ihn gefragt, womit er sie
eincremte und wozu. Hatte ihn angeschrien, ob er eigentlich taub sei. Doch der
Mann sagte nie etwas. Ja, er schien sie gar nicht zu hören. War er tatsächlich
taub? War er stumm? War er der leibhaftige Teufel?
Dass sie seit Tagen kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte, führte sie
in eine völlig andere Welt. Sie hörte jedes Geräusch. Roch wie nie den Duft des
Honigs und das Aroma der Kartoffelsuppe, die sie jeden Tag bekam. Nahm ihren
Pulsschlag im Herz, am Hals und in den Ohren wahr.
Sie hatte versucht, sich in die Situation zu ergeben und gleichmütig
zu werden. Doch ihre Angst war geblieben. Sie hatte geschrien und um sich
geschlagen. Ihre Angst war geblieben. Irgendetwas hatte man mit ihr vor. Warum
sonst wurde sie einbalsamiert? Und warum sonst hatte man jetzt noch eine
weitere Frau in dieses grosse, offenbar weit verzweigte System gebracht?
Als er wieder weg war, weinte sie. Denn nichts war schrecklicher als
dieses einsame Dämmern in der Dunkelheit. Nichts war schlimmer als dieses
schwarze Nichts.
«Hallo, ist da jemand?», rief sie irgendwann. «Ich bin auch hier
gefangen. Ist da wer? Haaalllooo.» Nichts rührte sich. War die andere Frau
betäubt worden? Hatte er sie getötet?
Sie betete. Sie betete, um ihre Angst zu bezähmen. Doch es half
nichts. Es war kalt. Es war dunkel. Und kein Gott schien sie zu hören.
7
«Ich will noch zur Glocke», sagte Moritz Freisler, als er mit
seiner Mutter das Mineralbad in Andeer verliess. Er hatte sich im Schwimmkurs
viel Mühe gegeben, also erfüllte ihm seine Mutter den Wunsch. Direkt am
Kirchturm der Andeerer Kirche stand eine alte Glocke. Mitsamt dem Gebälk und
den rostigen Schrauben der Halterung hatte man sie neben die Tür zum Turm
gestellt – als Erinnerung an die alte Kunst des Glockengiessens. Der
kleine Moritz rannte die Stufen zur Kirche hoch und hämmerte mit der Hand gegen
die Glocke, die nur ein dumpfes Pochen wiedergab. Dann hielt er inne. An der
Mauer direkt über der alten Glocke hatte er etwas entdeckt.
«Mama, was ist das?», rief er seiner Mutter zu.
Maria Freisler verschnaufte erst einmal, dann las sie ihm die Worte
vor, die in die Wand eingraviert waren: Stier, Auge, Blut,
Wasserkirche, Limes, Bräutigam, Esprit. Einen Sinn ergab das ihres
Erachtens nicht aber mit den Buchstaben hatte sich jemand wirklich Mühe
gegeben. Sie wirkten viel filigraner als die Schmierereien, die man sonst
manchmal an Hauswänden und öffentlichen Gebäuden fand. Da hatte ein wahrer
Kunsthandwerker Hand angelegt und alles fein säuberlich in die Kirchturmwand
geritzt. Nur wofür?
Beim Abendessen war das Schwimmen ein
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