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Schattengott

Schattengott

Titel: Schattengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uli Paulus
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Sie hatte für den Abend noch etwas vor.
    «Huah!», schrie sie und versetzte ihrem Trainingspartner Marco
einen saftigen Tritt gegen den Oberschenkel.
    Er lachte nur und forderte sie mit einem lässigen «Na, komm noch
mal» heraus. Sabina schnaubte und versuchte es erneut. Als sie gerade zur
Drehung ansetzte, säbelte er mit einem blitzschnellen Tritt ihr Standbein weg.
Sie landete auf dem Hosenboden und fluchte.
    Seit Februar ging sie regelmässig ins Fitnessstudio, um sich beim
Kickboxen abzureagieren. Marco nahm sie ernst und störte sich nicht daran, dass
sie eine Frau war. Wenn ihr, wie gerade, ein Schlag oder ein Tritt misslang,
zog er sie aber nur allzu gerne damit auf. Er musste sie wohl hin und wieder
ein bisschen sticheln. Marco war ein heiterer Geselle, der immer geradeheraus
seine Meinung sagte und sich nicht allzu viele Gedanken um den Gang der Dinge
machte. Seine Arme waren flächendeckend tätowiert, seine Haare kurz rasiert,
dazu zeigte er ein bubenhaftes Grinsen mit Zahnlücke. Heute schien er zu
spüren, dass seine Trainingspartnerin besonders geladen war. Und genau in
solchen Momenten, das wusste er, vernachlässigte sie gerne ihre Deckung. Sabina
versuchte noch einmal, einen Drehkick anzusetzen, verfing sich aber wieder in
seinem Bein und rutschte aus.
    «Mann!», schrie sie.
    «Ja, das bin ich, ein Mann», grinste er. «Sag mal, hast du’s grad
streng auf der Arbeit?»
    «Wir haben schon viel zu tun. Und Malfazi nervt mich ein bisschen.»
    «Der Typ, der dir immer auf den Arsch glotzt?»
    «Ja, der. Ich werde in hundert Jahren nicht verstehen, was die Typen
an meinem Arsch finden. Er ist doch fett.»
    «Also fett ist er jetzt nicht direkt.»
    «Da schau halt.» Sabina klopfte sich gegen ihre Pobacken.
    «Na ja», sagte Marco. «Dünn ist er natürlich auch nicht.»
    Sie trat ihn gegens Knie, er jaulte kurz auf, fing sich aber schnell
wieder. «Noch ’ne Runde?», fragte er.
    «Ja», sagte Sabina und begab sich in Kampfstellung.
    Nach dreissig Sekunden lag sie wieder auf dem Boden. Als ihr noch
zwei weitere Fusshaken gegen den Kopfschutz krachten, hatte sie endgültig
genug.
    «Manchmal vergess ich fast, dass du eine Frau bist», sagte Marco.
    Sabina lächelte.
    «Aber nur manchmal», fügte er an.
    «Ey, was ist denn das?», sagte Sabina und guckte überrascht nach
links. Marco drehte den Kopf und hatte im selben Moment ihren Fuss in der
Hüfte.
    «Der war für dein blödes Grinsen», sagte sie und ging duschen,
während er sich die Hüfte hielt.
    Die Sauna war nur noch spärlich besucht. Sabina streckte sich
auf dem Rücken aus und genoss die Wärme. Bald sickerte sie in einen entspannten
Dämmerzustand.
    Nach dem Saunagang steckte sie die Füsse in ein Becken mit kaltem
Wasser, dann in eines mit warmem. Ihr Geist war wieder wach. Sie blätterte in
einer Zeitschrift. Unglaublich, mit wie wenig Inhalt diese Frauenmagazine über
Jahre hinweg ihre Ausgaben füllten. Welcher Beziehungs- oder Sextyp bin ich?
Wie macht man die Wohnung schöner? Wie wird man erfolgreicher im Job? Welcher
Partner passt zu mir? Kochen, Reisen, Mode. Und ein bisschen Promi-Talk. Immer
das Gleiche. Je nach Saison und Trend ein wenig anders akzentuiert. Und
trotzdem lasen es alle Frauen der Welt immer wieder gerne. Sie informierte sich
über die sieben Sextypen und fand sich im Profil «Die Abenteurerin» wieder.
Eine Überraschung fühlte sich anders an.
    Gegen dreiundzwanzig Uhr verliess sie das Fitnessstudio, das in
einem alten Fabrikturm untergebracht war. Im Treppenhaus blickte sie auf die
Lichter von Chur. Es war die älteste Stadt der Schweiz, Kantonshauptstadt,
Bischofssitz, und doch ein Dorf. Genau das liebte sie daran.

6
    Ein Tropfen fiel zu Boden. Lange musste sich das Wasser an der
Decke gesammelt haben, sich langsam senkend, zu einem Körper formend, bis es
sich in einem einzigen Moment von der Decke loslöste und auf den Boden
aufschlug. Ein kurzes Zeichen, ein Geräusch wenigstens, eine leise Ahnung von
Bewegung ausserhalb ihrer selbst. Dann wieder Stille.
    Sie musste sich in einer Höhle oder in einem Schacht befinden. Die
Wände waren aus Naturstein, schroff und feucht. Neben ihrer Pritsche standen
zwei Kannen Tee. Im Eck ein Topf. Dazu hatte sie eine kleine Akkuleuchte. Wie
lange war sie jetzt schon hier gefangen? Eine Woche, zwei Wochen? Sie hatte
jedes Gefühl für Zeit verloren. Seit sie auf dem Heimweg überfallen worden war,
hatte sie kein Tageslicht mehr gesehen. Alles war so schnell gegangen.

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