Schattengott
informieren, was vorgefallen war. Sie sass
in ihrem Büro, vor ihr lag ein Strafzettel, den sie sich an Himmelfahrt auf der
Fahrt von Zürich nach Carschenna eingehandelt hatte. Sie würde Einspruch
einlegen, es war eine Dienstfahrt gewesen.
Aufmerksam sah sie sich die Fotos der verschwundenen Frauen an:
Patricia Salis aus Laax, eine Schülerin. Die im Moment freigestellte
Krankenschwester Alexandra Vinzens aus Davos und die Bäuerin Manuela Pitschen
aus Vals. Es wunderte sie nicht, dass zunächst keine weiteren Wortbotschaften
gefunden wurden. Bühler hatte ihr erzählt, dass die Schmuckstücke, die er
angefertigt hatte, ein Ring, eine Fusskette, ein Armreif und ein Amulett
gewesen waren. Man durfte davon ausgehen, dass die Gegenstände erst an den
Vermissten wieder auftauchen würden. Und man durfte ebenfalls davon ausgehen,
dass es noch eine siebte Entführung geben würde. Da die letzten drei Vermissten
fast gleichzeitig entführt worden waren, war mithin auch sicher, dass es sich
bei den Tätern um eine Gruppe handeln musste. Mindestens drei Menschen mussten
an den Entführungen beteiligt gewesen sein.
Nachdem sie sich das Video der Opferungen angesehen hatte, wurde
Sabina klar, dass der Druck nun noch mehr zunehmen würde. Die Frage, die
höchste politische Funktionäre und Kirchenvertreter beider Konfessionen bis in
den Vatikan umtrieb, war: Wer bedrohte auf so bestialische Weise die
christlichen Kirchen?
Für Malfazi hatte die Suche nach den verschwundenen Frauen oberste
Priorität. Es wurden Fahndungsplakate herausgegeben, sämtliche Medien
beteiligten sich an der Suche. Dass eines der entführten Mädchen erst fünfzehn
Jahre alt war, trieb die Empörung und die Angst in der Bevölkerung auf die
Spitze. Ein zwölfköpfiges Sonderteam unter Malfazis Führung beschäftigte sich
mit Hinweisen aus den Gemeinden und wertete jede noch so kleine Spur aus.
Sabina verschaffte sich ein wenig Freiraum, um in Nischen der Ermittlungsarbeit
zu schlüpfen. Sie hatte den Zeitpunkt für die nächsten Morde im Visier: das
christliche Fest Fronleichnam und die Mondfinsternis Mitte Juni, wenn der Mond
im Sternzeichen des Stiers stand. Eventuell auch die Mittsommernacht am 21. Juni.
An einem dieser Tage, da war sie sich sicher, würden die Täter zuschlagen. Die
Frage war nur: wo?
Ausgerechnet jetzt, da sie plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen
Interesses stand, trug sie diese bescheuerte Nasenschiene. Sie zog sich bewusst
in ihr Büro zurück. Immer wieder schaute sie die Videobotschaft an, die ihnen
das Bistum Chur übersandt hatte.
Eure Kirchen werden leer sein und verfallen,
wie unsere Heiligtümer verfallen sind.
An sieben Orten in sieben Jahren
wird das Blut des Stiers vergossen werden.
Und ihr werdet die Angst ernten, die ihr damals
gesät habt.
Offenbar sollten die Morde nur der Auftakt zu einer
siebenjährigen Schreckensperiode sein, in der jedes Jahr neue Opfer zu erwarten
waren.
Es wird die treffen, die das Kreuz tragen
und deren Ahnen sich im Namen Eures Heilands
versündigt haben.
Die Gegend um Zillis schienen die Täter nicht willkürlich
gewählt zu haben. Hier hatte man das Skelett eines etwa dreissig Jahre alten
Mithraspriesters gefunden, der vermutlich im 5. Jahrhundert Opfer der
Christianisierung des Schams geworden war. Gepfählt. Von den Christen, die wenige
Meter entfernt ihre Kirche errichtet hatten. Ernteten die Gläubigen von heute
eine dunkle Saat, die vor tausendsechshundert Jahren von ihren Ahnen
ausgebracht worden war? Hier war wieder das Motiv, über das sie mit Heini
gesprochen hatte: Saat und Ernte. Erhob sich da jemand zum Richter über
Geschehnisse, die viele Jahrhunderte zurücklagen? War das Morden eine Art
Erbrache?
Im Schatten der Schlucht beginnt das Sühnen
und es wird nicht enden, bis das Schwert der
Gerechtigkeit ruht.
Das war eindeutig ein Hinweis auf die Viamala-Schlucht und eine
Ankündigung weiterer Morde.
Gegen elf Uhr stürmte Malfazi ins Büro.
«Wir haben einen weissen Kastenwagen, der am Samstag gestohlen
wurde, auf einem Parkplatz bei der Alp Flix», sagte er. «Ich fahre mit einem
Einsatztrupp hoch und durchkämme die Gegend, kommst du mit?»
«Bin dabei», sagte Sabina und legte ihre Waffe an.
Sie verliessen das Polizeikommando und stiegen in einen BMW .
Gefolgt von zwei Einsatzbussen mit schwer bewaffneten Kollegen und sechs
Spürhunden fuhren sie Richtung Oberhalbstein.
Die Alp Flix befand sich oberhalb von Sur in der Gegend um
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