Schattengott
hat es seit hundert Jahren keine solchen Morde gegeben.
Und ich muss es wissen, bin seit achtundachtzig Jahren hier.»
«Ja, und wer soll das gemacht haben?»
«Na, die Muslime», mischte sich einer der Kartenspieler vom
Nebentisch ein. «Jetzt ermorden sie unsere Frauen, weil sie keine Moscheen
bauen dürfen.»
«Haben Sie jemanden konkret im Verdacht?», fragte Sabina und bereute
es sofort. Sie musste aufpassen, nicht zu offensichtlich ermittlerische Fragen
zu stellen.
«Von hier war das auf jeden Fall niemand.» Der Jassenklopfer
pfefferte eine Karte auf den Tisch. «Vielleicht einer dieser Spinner aus dem
Schloss unten, aber keiner von hier. So was gibt’s bei uns nicht. Wir bringen
doch nicht unsere Mädchen um, unsere hübschen.»
«Ja, die ist hübsch, die aus der Surselva», bemerkte ein anderer.
«Mach mal den Fernseher an, Röbi, vielleicht zeigen sie noch mal ein Foto.»
Der Wirt drückte auf den Knopf. Die alte Röhre surrte und zeigte
nach zwanzig Sekunden ein scharfes Bild.
«Gleich kommen die Nachrichten», sagte der alte Mann direkt neben
Sabina und führte seine zittrige Hand zum Weinglas.
Sabina bekam ihren sauren Most und prostete ihrem Nachbarn zu.
«Viva», sagte er.
«Viva», sagte sie und trank. Kurz darauf kamen die Capuns.
Im Fernsehen lief ein Interview mit der Leiterin des Departments für
Justiz, Sicherheit und Gesundheit. Die Regierungsrätin wies darauf hin, dass
die neuen Vermisstenfälle vermutlich mit den Morden von Carschenna in
Zusammenhang stünden. Sie erklärte, dass es mehrere Spuren gebe, über die man
aus ermittlungstaktischen Gründen aber nicht reden könne. Und erstmals sprach
sie auch eine öffentliche Warnung aus, dass junge Frauen und Mädchen
bestenfalls nicht mehr für längere Wegstrecken allein aus dem Haus gehen
sollten.
«Ha», rief der Scharfmacher vom Kartentisch. «Jetzt sollen wir schon
zu Hause bleiben, weil diese Drecksäcke unser Land aufmischen.»
«Carlo, bitte», sagte sein Nebenmann.
«Carlo, was? Ich hab mein Gewehr geladen. Wenn einer meiner Anna zu
nahe kommt, dann jag ich ihm eine Kugel in den Kopf.»
Sabina wandte sich wieder ihrem direkten Nachbarn zu, der gerade den
letzten Bissen verspeiste.
«Und die Leute aus dem Schloss in Masein?», fragte sie vorsichtig.
«Ach, die haben Ideen da. Verrückt. Aber der Rosenacker ist ja auch
schon seit zwanzig Jahren da. Der hat halt ein paar Rappen zu viel übrig und
lädt diese ganzen Leute zu sich ein. Und vielleicht hat er nicht nur ein paar
Rappen zu viel, sondern auch ein paar Tassen zu wenig.»
«Im Schrank», prustete einer vom Nebentisch, und alle Männer
lachten.
«Und Sie, Sie sind nicht von hier, oder?»
Sabina hatte befürchtet, dass die Frage kommen würde. «Aus dem
Schams. Donat.»
«Ach da, bei der Tina und dem Lützi.»
«Ja, bei der Tina und dem Lützi.»
«Und was machen Sie hier in Flerden?»
«Ich fahr noch hoch zum Pascuminer See», log sie. «Wollte bloss
einen Schluck trinken und was essen.»
«Na dann, viva!», sagten die Männer und prosteten ihr zu. «Und
passen Sie auf sich auf, wenn Sie alleine sind. Sie haben es ja gerade gehört.»
«Ja, das mach ich», sagte Sabina, hob das Glas, trank es leer und
legte das Besteck zusammen.
«Und passen Sie auch mit den Männern auf, oder wer hat Ihre Nase so
zugerichtet?», fragte ihr Nachbar.
«Ach, das war beim Sport», sagte sie.
«Sport ist Mord, das wissen Sie doch», lachte er.
«Jetzt weiss ich es, ja», sagte sie. «Wiederluaga.»
«Wiederluaga.»
Sabina wollte noch einmal alles durchdenken, konnte sich aber
nicht dazu aufraffen, aufs Polizeikommando zu fahren. Seit Malfazi mit dem
Sonderermittlerteam an dem Fall dran war, hatte sie noch nicht wieder zu alter
Form zurückgefunden.
Sie fuhr nach Donat und packte ihre Schwimmsachen ein. In der Sauna
konnte sie am besten nachdenken. Ihren Wagen stellte sie direkt am Andeerer Bad
ab und bezahlte für drei Stunden. Nach dem Duschen legte sie sorgsam ihre
Nasenschiene ab und verschwand in der Schwitzstube.
«Grüezi wohl», grüsste sie in die Runde, drei befremdliche Blicke
und ein «Buona sera» kamen ihr entgegen. Seit die Tessiner und Italiener Andeer
für sich entdeckt hatten, war Italienisch die meistgehörte Sprache im
Mineralbad. Sabina streckte sich aus und versenkte sich in ihre Innenwelt. Sie
liess die ganzen Geschehnisse seit dem Verschwinden von Katharina Jakobs noch
einmal Revue passieren. Als ihr der Schweiss aus allen Poren lief, ging sie
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