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Schattengott

Schattengott

Titel: Schattengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uli Paulus
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Kathedrale. Die Gemeinde schwieg gespannt.
Alle Blicke waren auf den Bischof gerichtet.
    «Veni, Sancte Spiritus. Et emitte caelitus. Lucis
tuae radium» , sang er noch einmal und hob erneut die Arme, doch die
Worte der Pfingstsequenz wollten nicht über seine Lippen kommen. Die Menschen
räusperten sich, Messdiener sahen sich fragend an, der Organist scharrte nervös
mit den Füssen.
    «Veni, Sancte Spiritus. Et emitte caelitus. Lucis
tuae radium», setzte der Bischof ein drittes Mal an, und diesmal fand
er, die Arme flehend zum Himmel gewandt, seine Worte wieder. «Veni, pater pauperum, veni, dator munerum, veni, lumen cordium», fuhr er fort und sprach die zehn Verse, mit denen er um das Kommen des Heiligen
Geistes bat. «Da virtutis meritum, da salutis exitum, da
perenne gaudium», endete er und öffnete seine tränenerfüllten Augen,
bevor die Orgel einsetzte. Noch lange danach unterhielten sich die Churer
Katholiken über diesen Vorfall.
    * * *
    Sie fühlte sich so leicht und beschwingt, als ob der Heilige
Geist sie durchströmt hätte. Die Schmetterlinge flatterten im Sonnenschein, und
der Duft der Wiesen kündete davon, dass es endlich Sommer wurde. «Tut Gutes
euren Nächsten», hatte der Pfarrer in seiner Pfingstpredigt gesagt, und das
wollte sie gleich umsetzen. Sie lief zur kleinen Kapelle St. Sebastian,
die auf dem Weg zur Grossmutter lag. Im Wald war es schattig, sie knöpfte ihre
Jacke zu. Leise betrat sie die Kapelle und kniete nieder.
    «Lieber Gott, bitte mach, dass es der Oma wieder gut geht und sie
noch lange lebt», betete sie und zündete eine Kerze an.
    Patricia betete jeden Tag und engagierte sich auch in der
Jugendgruppe von Laax. Das Beten war für sie eine Selbstverständlichkeit. Die
Oma tat es, die Tante tat es, der Papa, die Mama, der Jürg und die Ursina. Sie
bekreuzigte sich. Dann rannte sie hinaus in den Wald und hinauf nach Falera.
Auf den Wiesen oberhalb des Waldes pflückte sie ein paar Blumen. Das Summen und
Surren der Insekten tönte wie ein Singen in ihren Ohren. Sicher würde sich die
Grossmutter sehr über den Pfingstgruss von den Bergwiesen freuen. Sie mochte
doch die Blumen so gerne.
    Als Patricia die kleine Brücke über den Bach passierte, hörte sie
eine männliche Stimme in ihrem Rücken, die ihr etwas zurief. Sie blieb stehen
und wartete, bis der Mann bei ihr war.
    «Du», sagte er, «kannst du mir helfen?»
    «Was ist denn?», fragte sie. Die Mutter hatte ihr neulich noch
einmal eingeschärft, sie dürfe auf keinen Fall mit fremden Männern oder
Burschen mitgehen.
    «Da unten liegt ein Reh am Waldrand, das hat sich ein Beinchen gebrochen.
Ob du kurz warten kannst, bis ich Hilfe geholt habe?»
    «Och, das Arme», sagte Patricia. «Ja, ich komm mit.»
    Als sie am Waldrand angekommen waren, fragte sie, wo das Reh sei.
    «Da, hinter dem Wagen», sagte der Mann. Patricia ging hinter den
weissen Kastenwagen, aber da war kein Reh.
    Als sie wieder nach vorne kam, hielt ihr der Mann ein Tuch vor die
Nase, packte sie grob und zerrte sie auf die Ladefläche. Der Blumenstrauss
blieb am Waldrand liegen. Weiter oben im Dorf schlugen die Kirchenglocken zwölf
Uhr. Die Grossmutter wartete mit dem Mittagessen.

2
    Noch am Pfingstsonntag gingen die Vermisstenmeldungen bei den
Polizeiposten in Vals, Davos und Laax ein. Zwar waren alle Regionalposten zur
besonderen Wachsamkeit aufgerufen und viele potenzielle Opfer gewarnt worden,
eine generelle Warnung an die Bevölkerung aber hatte es nicht gegeben.
Lediglich in Davos hatte die Polizei eine lokale Warnung an die Bediensteten
des Krankenhauses herausgegeben. Vergebens, wie sich jetzt herausstellte, denn
es traf eine Krankenschwester, die sich seit Längerem im Krankenstand befand
und daher nicht auf der potenziellen Opferliste aufgetaucht war.
    Seit Sonntag herrschte traurige Gewissheit. Drei junge Frauen waren
nicht vom Pfingstgottesdienst nach Hause gekommen und galten als vermisst. Eine
davon war noch ein Mädchen, gerade fünfzehn Jahre alt. Ermittlungen bei den
Verwandten ergaben, dass die drei Vermissten alle Vorfahren im Schams hatten
und im Sternzeichen des Stiers geboren waren. Die Polizei hatte viele
potenzielle Opfer gewarnt und auch Frauen benachrichtigt, die gar nicht mehr im
Schams wohnten. Über mehr als eine Generation hinweg aber hatte niemand die
Herkunft und Verwandtschaftsbeziehungen überprüft.
    * * *
    Es war der Dienstag nach Pfingsten. Sabina hatte ihren Tiefpunkt
überwunden und liess sich über alles

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