Schattengott
im Weg. Sie fand
auf dem Friedhof des bischöflichen Hofs in Chur statt.
Es war ein herrlicher Frühlingstag, die Bäume blühten, Vögel
zwitscherten, und die Gipfel des Calandas glitzerten in der Sonne. Der Priester
predigte vom ewigen Leben, und die Weinstöcke, die am Hang neben dem
Priesterseminar neu austrieben, gaben den Worten eine ganz besondere
Symbolkraft.
Sabina betrachtete die Trauergemeinde, aber auch sie wurde beäugt.
Nachdem der Sarg unter der Erde war, kam eine Frau zu ihr, die sich als Bühlers
Mutter vorstellte. Ob sie nicht die Ermittlerin sei? Ob sie inzwischen wisse,
warum man ihren Sohn umgebracht habe? Ob man es nicht hätte verhindern können?
Ob sie es nicht hätte verhindern können?
Sabina gab mechanische Antworten. Schliesslich hielt sie es nicht
mehr aus, schon wieder mit dem Leid einer Mutter konfrontiert zu werden, die
ihr Kind verloren hatte, und flüchtete vor weiteren Fragen.
Sie wusste, dass sie dringend zu Malfazi ins Polizeikommando hätte
fahren müssen, aber sie konnte sich auch heute nicht dazu durchringen.
Stattdessen ging sie in die Stadt und setzte sich ins Caféstübli, um
nachzudenken.
Das Café im Geburtshaus der Malerin Angelika Kauffmann war vor
einiger Zeit von ein paar jungen Frauen wiedereröffnet worden. Die goldbraunen
Holzwände, das alte Mobiliar, die freundlichen Leute: Das Caféstübli war ein
guter Ort, um in Ruhe einen Cappuccino zu trinken. An diesem Tag aber spürte
Sabina die ganze Enge des kleinen Cafés. Sie fühlte sich nicht wohl, ein
diffuses Gefühl der Schuld machte sich in ihr breit. Hätte sie Bühler wirklich
schützen können? War es vorhersehbar gewesen, dass ihn jemand aus dem Verkehr ziehen
würde? Und hätte man durch eine nachdrückliche öffentliche Warnung nicht auch
die drei neuen Vermisstenfälle verhindern können? Schliesslich war anzunehmen
gewesen, dass die Täter noch einmal zuschlagen würden. Auf der anderen Seite
hatte sich Oberstleutnant Spescha aus durchaus nachvollziehbaren Gründen gegen
öffentliche Panikmache ausgesprochen. Was sollten die Menschen denn tun, wenn
eine solche Warnung ausgesprochen wurde: sich zu Hause einsperren? Nicht mehr
zur Arbeit gehen? Das ideale Zusammenspiel mit den Medien war in solchen Fällen
nicht einfach. Wie auch immer, ein Ergebnis der polizeilichen
Informationspolitik war, dass drei weitere junge Frauen verschwunden waren.
Sabina spürte eine ekelhafte Unsicherheit in sich. In ihrem Kopf
drehten sich die Gedanken und formten sich zu einer bedrohlichen
Abwärtsspirale. Ihr normalerweise forsches Auftreten verleitete die meisten
Leute dazu anzunehmen, sie sei einer dieser Menschen, bei denen stets
Sonnenschein auf der inneren Wetterkarte angezeigt war. Tatsächlich aber hatte
sie sich diese zuversichtliche Ausgeglichenheit hart erarbeitet. Und immer noch
kam es vor, dass sie wie aus heiterem Himmel jede Selbstsicherheit verlor und
im Morast ihrer Gedanken versank. So wie jetzt. Seit ihrem Nasenbeinbruch hatte
sie ihre Mitte noch nicht wiedergefunden. Sie zitterte.
«Geht es Ihnen nicht gut?», fragte die Kellnerin, aber das machte
Sabinas Lage nur noch bedrohlicher, da sie nicht imstande war, adäquat zu
reagieren.
«Doch … danke», stotterte sie. «Es geht schon, noch einen
Cappuccino bitte und ein Wasser. Wasser.»
Sie stand auf und ging zur Toilette. Zittrig schloss sie hinter sich
ab. Sie betrachtete sich im Spiegel, der akkurat in den Rahmen eines alten
Sprossenfensters eingearbeitet war. Auf diese Weise sah sie ihren Oberkörper in
sechs Teile gespalten. Ein Bild, das durchaus ihrem Zustand entsprach.
«Werd mal wieder normal», sagte sie zu ihrem Spiegelbild, drehte das
Wasser auf und warf sich ein paar Hände voll davon ins Gesicht. Ihre Wangen
bekamen wieder etwas Farbe, das Zittern beruhigte sich.
«Du gehst jetzt da raus und bist wieder Sabina», sagte sie zu sich
selbst.
Als sie an ihrem Tisch Platz nahm, standen das Wasser und der Kaffee
schon da. Die Kellnerin hatte gleich drei Kekse dazugelegt. Sabina verpasste
sich die Extraportion Zucker. Langsam fand sie wieder zu sich. Sie ging zurück
aufs Polizeikommando und bereitete eine Aktion vor, die sie sich am Abend zuvor
überlegt hatte.
Sie überraschte Rosenacker und seine Gäste beim Kaffeetrinken.
Alle sassen gemeinsam im Speisesaal und unterhielten sich. Rosenacker fragte,
ob sie etwas mitessen wolle. Es gab Maluns, ein Bündner Gericht aus geriebenen
Kartoffeln, dem Sabina durchaus etwas abgewinnen
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