Schattengott
eingepackt, die Spezialkräfte abgezogen.
Dennoch blieben die Örtlichkeiten überwacht. Malfazi wollte gerade ins
Polizeikommando nach Chur fahren, als er die Nachricht über Polizeifunk
erhielt.
«Wir haben gerade eine Meldung bekommen: drei Frauenleichen in der
alten Kirche Mistail bei Alvaschein.»
«Scheisse!», brüllte er und verbrühte sich die Hand an seinem
Kaffee. Mit voller Wucht schlug er aufs Armaturenbrett. «Fuck!»
Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Einsatzwagen von der
Hauptstrasse durchs Albulatal abbog und den Fussweg zum alten Kloster
entlangraste.
Malfazi rannte zur Kirche, vorbei an zwei Polizisten am Eingang. Und
dann sah er sie.
Nackt wie die drei Frauen zuvor. Auch sie aufgebahrt wie
Gekreuzigte. Auch sie tot.
«Verhurte Scheisse», fluchte er. Im nächsten Moment instruierte er
die Spurensicherung. «Sperrt den Zugang vorne an der Strasse ab. Und wenn
Schaulustige zur Absperrung kommen: fotografieren.»
Sabina betrat die Kirche und hielt sich bei dem Anblick die Hand vor
den Mund. Als sie sich gefasst hatte, nahm sie Malfazi zur Seite.
«Wir hatten den richtigen Zeitpunkt, aber nicht die richtige
Kirche», sagte sie. «Scheisse, Claudio.»
«Und», blaffte er sie an, «hattest du die Kirche hier auf dem
Radar?»
«Nein, das war ja auch kein Vorwurf an dich.»
«Klang aber so.»
Sabina wechselte auf eine sachlichere Ebene. «Wie sieht es mit
Spuren aus?»
«Vorne an der Strasse gibt es zig Autospuren. Hierher führen nur
Fussspuren. Allerdings von allen Seiten. Zum Teil sind sie verwischt.»
«An den Opfern wird man sicher nichts finden ausser diesem
Honigbalsam. Und da stochern wir ja auch im Dunkeln», sagte Sabina.
«Wir haben noch die Schmuckstücke», sagte Malfazi und deutete auf
die Leichen. «Aber damit haben wir ja gerechnet.»
Sabina schaute zu den Opfern.
«Gott, das ist ja wirklich noch ein Kind», sagte sie und beugte sich
über Patricia Salis, die sie vom Fahndungsfoto kannte.
«Ja», sagte Malfazi, «die schrecken vor nichts zurück.»
Jede der Frauen trug eines der Schmuckstücke aus Bühlers Werkstatt.
Die Schülerin Patricia Salis aus Laax einen Ring, die Krankenschwester
Alexandra Vinzens aus Davos einen Armreif, die Bäuerin Manuela Pitschen aus
Vals eine Fusskette.
«Bei den ersten Frauen wollte er uns Zeichen geben», sagte Sabina,
«jetzt will er seine Macht demonstrieren. Er hat das von Anfang an so geplant.»
«Er, sie, es», sagte Malfazi und schlug mit der Faust gegen die
Kirchentür. «Wer auch immer diese Scheisse macht, wir haben uns wieder
verarschen lassen.»
Sabina kniete noch immer bei den Leichen. «Es fehlt noch das
Amulett. Das haben sie sich für ihr letztes Opfer aufbewahrt», sagte sie.
«Es darf kein Opfer mehr geben», erwiderte Malfazi. «Wir müssen
diesem Spuk ein Ende machen.» Sechs Frauen waren schon getötet worden. Der
grausamen Logik des Falls zufolge fehlte noch eine letzte Frau. Es blieb nur
noch eine Chance, zuzugreifen und sich als Chef des Spezialdienstes zu
profilieren. Und diese Chance wollte, die musste er nutzen.
«Ich bin zwar hundemüde», sagte er, «aber wir müssen weitermachen.
Wir können uns diese Schmach nicht bieten lassen. Wir müssen diese Schweine
finden.»
Sabina nickte ihm zu und ging zur Strasse. Vor der Absperrung
blieben immer wieder Fahrzeuge stehen. Schaulustige liefen umher, manche
machten Bilder mit ihren Handys. Auf Malfazis Befehl hin fotografierte ein
Polizist jeden, der vor der Absperrung auftauchte.
Nach drei Stunden kamen die Leichenwagen, um die Opfer zur
Gerichtsmedizin zu bringen. Weitere fünf Stunden später hatte die
Spurensicherung ihre Arbeit in der kleinen Kirche abgeschlossen.
Sabina setzte sich und betrachtete die verblichenen Malereien an der
Wand. In der Mittelapsis erkannte sie Engel, Apostel, auch den Heiland. Warum
hasste jemand diese Religion so sehr? Sicher hatte sie viel Tod und Unglück
gebracht im Laufe der Jahrhunderte, auch persönliche Züchtigungen und
Missbrauch. Und doch war sie die Religion der Menschen hier geworden. Eine
Religion, die den Menschen Halt und Sinn gegeben hatte. Eine Religion auch, die
grossartige, ja unglaubliche Werke in Kunst, Musik und Architektur
hervorgebracht hatte. Ihr Urgrossvater war selbst Pfarrer im Schams gewesen.
Sie hatte die christliche Schule durchlaufen. Und jetzt? War diese Bedrohung
durch eine kleine Gruppe nur ein Sinnbild für einen tiefer liegenden Zerfall?
Ging eine lange Phase christlicher Dominanz
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