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Schattengott

Schattengott

Titel: Schattengott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uli Paulus
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womöglich einem Ende entgegen?
    Noch am selben Tag erreichte die neue Videobotschaft den
Bischofspalast in Chur und den Verwaltungssitz der evangelisch-reformierten
Landeskirche Graubünden. Die drei vermissten Frauen waren wieder blutig
geopfert und diesmal in der reformierten Kirche von Mistail abgelegt worden.
Erneut war das Video untermalt von lateinischen Gesängen und mit einer
Botschaft in Latein: «Was uns angetan wurde, wird auch euch angetan werden. In
sieben Jahren, an sieben Orten. Es soll die treffen, die das Zeichen des
Kreuzes tragen.»

7
    Am Freitag prangte die Schlagzeile «Blutrausch am Albula –
mysteriöser Ritualmörder schlägt wieder zu» auf der ersten Seite des Bündner
Tagblatts. Die Bilder vom Fundort waren Archivbilder, zusätzlich sah man die
Absperrung vor der Kirche und den Abtransport der Leichen. Dazu drei Passfotos
der Opfer. Genug, um eine weitere Welle der Angst durch den ganzen Kanton zu
jagen.
    Sabina las den Artikel und versuchte sich vorzustellen, wie die
Bevölkerung die Verbrechen wahrnahm. Niemand ausser ein paar Kirchenvertretern,
Politikern und der Polizei wusste, dass es die Videobotschaften gab. Niemand
ausser ein paar Eingeweihten kannte den Zusammenhang zum Mithraskult. Zwar war
davon auszugehen, dass es früher oder später eine undichte Stelle geben würde,
die das Ganze an die Medien weiterleitete. Für den Moment aber mussten diese
Morde für die Bevölkerung wie eine plötzliche Naturkatastrophe wirken. Sie
kamen ohne Vorwarnung. Grauenvoll und beängstigend. Kein Wunder, dass
angebliche Schuldige am Stammtisch schnell gefunden waren.
    Am Nachmittag meldete sich Alfred Rosenacker am Telefon.
    «Wir müssen reden, Frau Lindemann.»
    «Soll ich zu Ihnen ins Schloss kommen?»
    «Nein, irgendwo anders.»
    «Dann treffen wir uns an der Kirche in Donat, in einer halben
Stunde. Okay?»
    «Gut, bis gleich, Frau Lindemann.»
    Er kam mit dem schwarzen Defender. Sabina begrüsste ihn und
schlug vor, in die Kirche zu gehen. «Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.»
    Die Kirche von Donat war 1688 erbaut und mehrfach restauriert
worden. Das helle Holz der Bänke und des Bodens schuf mit dem einfallenden
Sonnenlicht eine warme, fast wohnliche Atmosphäre. In die kunstvoll verzierte
Holzkanzel waren die Worte « GOTES WORT BLEIBT EWIGLICH » geschnitzt.
    «Ja, ja, das Wort», sagte Rosenacker und setzte sich auf eine Bank
hinter dem Taufstein. «Wer beansprucht nicht alles die Hoheit über das Wort und
die Wahrheit.»
    «Religionen, Politiker, Philosophen», sagte Sabina.
    «Und Dichter.» Rosenacker zog ein Buch aus seiner Jackentasche. «Ich
habe Dostojewski gelesen, wie Sie wissen.»
    «‹Die Brüder Karamasow›.»
    «Ja.»
    «Und, zähe Kost?»
    «Durchaus. Aber worum es mir vor allem geht: Da wird einem
Unschuldigen ein Mord in die Schuhe geschoben.»
    «Das ist ja nun ein altes Motiv», sagte Sabina.
    «Ja, gewiss», sagte Rosenacker und hob bedeutungsvoll die Hände.
«Aber verstehen Sie nicht?»
    «Was?», fragte Sabina und stieg auf die erste Stufe der Kanzel,
während Rosenacker sitzen blieb.
    «Finden Sie nicht, dass es auch für die Ermittlungen in den
Mordfällen passen könnte?»
    Sabina blickte Rosenacker in die Augen. «Sie meinen Schlorf?»
    «Ja», sagte Rosenacker. «Diese Morde passen nicht zu ihm, aber sie
tragen irgendwie seine Handschrift.»
    «Sie meinen, jemand hat seine Handschrift kopiert?»
    «Jemand, der wusste, dass Schlorf nicht da sein würde, um sich zu
verteidigen, um seine Unschuld zu beweisen. Er bekommt nichts davon mit, dass
er verdächtigt wird. Er kann sich nicht wehren. Umso mehr sieht er für die
Polizei wie der Täter aus, denn er könnte auch hier irgendwo im Wald sein. Das
ist sehr klug eingefädelt.»
    «Haben Sie einen Verdacht, wer ihm die Morde anhängen will?»
    «Ich habe lange überlegt. Aber ich kann, ich will niemanden
verdächtigen. Es übersteigt meine Vorstellungskraft, dass es einer meiner Gäste
sein könnte. Aber wer sonst wusste, was Schlorf tat und vorhatte?»
    Sabina überlegte. Redolfi. Dieser hagere, verschwiegene Franzose. Er
wirkte so geistreich, so intelligent. Aber sprach das gegen ihn als Täter? Auch
die Morde waren auf ihre Art geistreich. Wer sie geplant hatte, brauchte eine
Menge Intelligenz. Oder Sanderson? Der Australier machte einen so
bodenständigen und verbindlichen Eindruck. Auf der anderen Seite hatte er
diesen Hang zur Symbolik. Beschäftigte sich sein Leben lang nur mit solchen
Dingen.

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