Schattengott
Strasse geräumt hatte. Gleichzeitig setzten sich zwei
Hubschrauber mit schwer bewaffneten Polizisten in Bewegung.
Der Weg zu den Silberminen war steil; Schotter prasselte gegen den
Unterboden.
«Wie lange braucht man auf einem Maultier von der Viamala bis zu den
Minen?», fragte Malfazi über Funk.
«Unter fünf Stunden ist das nicht zu machen», sagte Heini.
«Warum hat er nicht die Strasse genommen?», fragte Malfazi.
«Er wusste, dass wir ihn verfolgen, und wollte uns wohl im Glauben
lassen, er sei mit dem Wagen in die Tiefe gestürzt», antwortete Heini.
Malfazi fuhr sich übers Gesicht. Vor seinem inneren Auge liess er
die Geschehnisse des Abends noch einmal ablaufen.
Um zweiundzwanzig Uhr vierunddreissig hatte er das letzte Signal von
Sabina bekommen. Um zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig war der Berg eingestürzt.
Seither waren über fünf Stunden vergangen. Er hielt Kontakt zu den
Hubschraubern und wies die Polizisten an, nach einem oder mehreren Maultieren
Ausschau zu halten. Die Rückmeldungen waren negativ.
«Wir treffen uns an der Alp», funkte er.
Der Jeep ächzte die Strasse hoch. Mehrmals musste der Fahrer
zurückstossen, weil er nicht um die engen Kurven kam. Einmal hing der Wagen mit
einem Rad über dem Abgrund.
Im Osten erhellte ein rosafarbener Streifen den Horizont. Bald ging
die Sonne auf. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.
* * *
Er legte seinen Mantel ab und kniete nieder. Nur für ihn war der
Hohepriester gekommen. Nur für ihn hielten Cautes und Cautopates, die beiden
Messdiener, die Fackeln. Nur für ihn brachte der Stumme das Opfer herein. Sie
roch nach Honig. Gereinigt für die letzte Opferung. Für die heiligste, für die
siebte Stufe. Mit ihrem Blut würde er die Erlösung erlangen. Würde endlich die
letzte Stufe erreichen und mit dem Licht des Felsengottes verschmelzen.
Der Hohepriester legte ihr das Amulett an. Vater stand gross in der Mitte, Vater , die siebte Stufe des
Mithraskults. Die Vollendung.
* * *
«Wie viele dieser Schächte gibt es?», fragte Malfazi, als sie
die Zweitausender-Grenze erreicht hatten.
«Fünfzehn, zwanzig», funkte Heini, «vielleicht auch mehr. Sie sind
wohl nie alle freigelegt worden.»
Die Polizisten aus den Hubschraubern stiessen hinzu und leuchteten
die Felswand ab, in die sich die Erzschächte bohrten. Es war nichts zu sehen.
Sie stiegen weiter abwärts, immer an der Wand entlang. An einem Felsvorsprung
etwa hundert Meter unter ihnen erkannten sie die Umrisse zweier Maultiere.
«Da unten», flüsterte Malfazi.
Sie stiegen ab. Das Geröll kam ins Rutschen. Sie warteten kurz. Als
sie bei den Tieren angekommen waren, hielten sie inne. Es war nichts zu hören.
«Hier muss irgendwo etwas sein», sagte Malfazi. Er tastete sich an
der Wand entlang, dann bemerkte er eine Öffnung im Fels. Gerade breit genug, um
sich hindurchzuzwängen. Er gab ein Zeichen. «Wir gehen rein, ihr wartet
draussen.»
Gemeinsam mit sechs Kollegen betrat Malfazi den Schacht. Er war
feucht und kaum mannshoch. Leicht gebückt gingen die Polizisten vorwärts. Nach
etwa zwanzig Metern teilte sich der Weg. Malfazi gab dreien der Polizisten ein
Zeichen nach rechts. Er und die drei anderen gingen geradeaus weiter. Der Weg
führte gut fünfzig Meter ins Innere des Bergs. Plötzlich hielt Malfazi inne und
gab ein Zeichen, stehen zu bleiben.
Er lauschte. Von irgendwoher war die monotone Melodie eines
Mönchsgesangs zu hören. Sie löschten ihre Lampen und tasteten sich vorsichtig
weiter vor. An einer Unebenheit stolperte Malfazi und stiess sich schmerzhaft
den Kopf. Er schrie kurz auf. Das Singen verstummte.
Sie verharrten einige Zeit in Stille. Dann hörte Malfazi Schritte.
Der zuckende Schein einer Fackel erhellte den Gang. Ein Mann mit schwarzer
Maske trat ihnen entgegen und stiess ein fürchterliches Geräusch aus. Halb
animalisch, halb menschlich, so klang der Schrei.
Malfazi schoss dem Mann ohne Vorwarnung ins Bein. Der Maskierte
brüllte auf und sackte in sich zusammen. Malfazi drängte sich mit zwei
Polizisten an ihm vorbei. Der dritte sicherte den Verletzten.
* * *
Er war bereit für die letzte Stufe. Das Opfer lag auf dem Altar.
Doch jemand störte das heilige Ritual.
Aus einem der Zugangsschächte war ein Geräusch zu ihnen gedrungen.
Der Hohepriester brach die Zeremonie ab, hielt einen Augenblick inne, dann ging
er auf Redolfi zu.
«Du bist auf einer Stufe mit Mithras, opfere den Stier und dann geh
ein in seine Welt.» Damit reichte er ihm den Dolch
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