Schattengott
Laptop war längst
auseinandergenommen worden. Die Festplatte war jedoch so fachmännisch zerstört
worden, dass sich keine Daten mehr rekonstruieren liessen. Sabina wusste, dass
die Kollegen ganze Arbeit geleistet hatten. Dennoch wollte sie sich mit den
Ergebnissen nicht zufriedengeben. Sie bückte sich und sah unters Bett.
Rosenacker blickte betreten zum Fenster, als sie ihm ihren Hintern
entgegenstreckte. Sie bemerkte die Ungeschicktheit ihrer Bewegung und legte sich
ganz auf den Boden. Doch auch unter dem Bett schien nichts mehr zu sein. Sabina
stand auf und wandte sich zu Rosenacker um. «Wo würden Sie etwas verstecken,
das keiner sehen soll?»
«Ich würde es wahrscheinlich verbrennen oder vergraben», antwortete
er.
«Wo könnte Redolfi hier in der Nähe etwas vergraben haben?»
«Er war öfter im Garten bei der grossen Tanne. Der Platz ist vom
Haus aus nicht einsichtig.»
Im Garten roch es nach Wiesenblumen. Sabina kniete neben der
Tanne nieder und wischte mit der Hand Reisig und Stecken beiseite. An einer
Stelle war die Humusschicht ungleichmässig und farblich verändert. Sie setzte
den Spaten an, den Rosenacker ihr aus dem Stall geholt hatte, und grub.
In etwa vierzig Zentimetern Tiefe stiess sie auf etwas Hartes. Sie
grub weiter und legte eine dunkelgrüne Kiste frei, wie man sie von der Armee
kannte. Mit den Händen entfernte sie die letzten Erdreste und bat Rosenacker,
ihr zu helfen. Gemeinsam hievten sie die Kiste aus der Grube und öffneten sie.
Sie fanden Pläne der Gegend, Zeitungsartikel über die Morde,
kopierte Facebook-Seiten, biografische Notizen, Fotos der Opfer und als lose
Blattsammlung Schlorfs Aufzeichnungen. Redolfi hatte tatsächlich den ganzen
Ordner von Schlorf fingiert und mit Hinweisen versehen, die er im Duktus von
Schlorfs Handschrift selbst geschrieben hatte. Als die Polizei Schloss Mondfels
immer mehr in den Fokus genommen hatte, war ihm die Sache offenbar zu heiss
geworden, und er hatte seine Unterlagen vergraben. Spätestens nach der ersten
Befragung hatte er geahnt, dass die Polizisten wiederkommen würden. Den
fingierten Ordner hatte er so auf dem Dachboden deponiert, dass man das
Versteck für authentisch hielt, ihn bei einer Hausdurchsuchung aber dennoch
finden würde. Er hatte wirklich alles bis ins Detail geplant und vorhergesehen.
«Wieso hat er mit so viel Aufwand Schlorfs Methode kopiert? Er hätte
ihn doch auch einfacher belasten können?», fragte Sabina nach einer Weile.
«Ästhetik?», sagte Rosenacker. «Abseits aller Grausamkeit –
diese Morde sind ein Kunstwerk. Von ausgesuchter, morbider Schönheit. Von den
Wortbotschaften bis zu den Fundorten der Leichen. Redolfi war ein Ästhet –
und offenbar betrachtete er diese Morde als Opfergabe für seinen persönlichen
Gott. Ich kann es mir nicht anders erklären.»
«Warum Mithras?»
«Redolfi muss schwer unter der christlichen Religion gelitten haben.
Und seine Mittäter auch. In Mithras haben sie wohl ihren Erlöser gefunden und
sind darüber in einen krankhaften Wahn verfallen.»
«Die Erklärung für diesen Hass aufs Christentum muss in seiner
Vergangenheit liegen», sagte Sabina. «Wir haben seine Biografie aufwendig
recherchiert und keinen Hinweis gefunden. Wissen Sie etwas über Redolfis
Hintergrund?»
«Nein, ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiss. Aber es gibt noch
diesen Bruder, der in einem Kloster in Frankreich lebt.»
Sabina nickte. «Er war verreist, wir konnten ihn bisher noch nicht
befragen. Aber ich werde herausfinden, ob er wieder da ist …» Sie stockte.
«Noch etwas …» Sabina sah Rosenacker an. «Danke. Sie haben mir sehr
geholfen.»
12
Eine Woche lang durchkämmten die Hundertschaften der Polizei das
Gebiet zwischen Muttner Horn und Piz Curvér. Die Suchtrupps fanden unbekannte
Eingänge zu den Silberminen von Taspegn, entdeckten Spuren der Maulesel im
Traversiner Tobel, stiessen auf bisher nirgends vermerkte Spalten und Höhlen.
Nur eines fanden sie nicht: die Männer, die mutmasslich mit Redolfi das
tödliche Ritual vollzogen hatten. Waren die Täter noch in der Nacht der
Mondfinsternis entkommen?
Auf dem Polizeikommando war man damit beschäftigt, die
Mosaikstückchen zusammenzufügen, die zur vollständigen Aufklärung der Morde
führen konnten.
Die Suche nach Hinweisen auf eine Kultgemeinschaft im Namen des
Mithras blieb ergebnislos, dafür kamen viele Rückmeldungen aus der regionalen
Hotellerie. Die meisten Verdächtigungen richteten sich gegen
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