Schattengreifer - Die Zeitenfestung
noch geschickt ausweichen. Dicht über den Köpfen der Jugendlichen blieb der Speer in der Lehmwand stecken.
Der Schattengreifer konnte mit seinen langen Fingerspitzen endlich den Speer ergreifen. Er zog ihn mit Gewalt aus seinem Körper und schleuderte ihn auf die Wachen. Diese sprangen auseinander, und so schoss auch dieser Speer in eine der Wände, wo er im Lehm stecken blieb.
Der Magier streckte beide Hände aus und jagte jedem der Wächter eine seiner grünen Feuerkugeln entgegen. Die Männer schrien auf und rannten vor dem Feuer davon.
Sofort wandte sich der Schattengreifer wieder den Jugendlichen zu. Blanker Hass blitzte in seinen Augen auf. »Seid ihr gekommen, um sie zu retten?«, fauchte er sie an. »Nin-Si wird hier bleiben. Sie wird das Schicksal erleiden, dass ihr zugedacht war. Und ihr selbst tragt die Schuld daran! Ich hatte euch die Gelegenheit geboten, die Welt mit mir zu verändern. Doch ihr habt euch gegen mich entschieden. So bringe ich euch wieder in eure Zeiten zurück. In eure Länder – in eure Gefahren. Ihr habt es selbst so gewählt. Nin-Si werdet ihr nicht mehr retten können. Und auch euch selbst könnt ihr nicht mehr helfen.«
Schon streckte er seine Hände wieder aus, doch in diesem Moment schoss ein weiterer Speer haarscharf an seinem Kopf vorbei.
Der Magier drehte sich erneut um. Weitere Wachen kamen aus dem Zeremoniensaal auf ihn zugestürzt. Sie waren anscheinend von dem Geschrei in der Halle aufgeschreckt worden.
Der Schattengreifer blickte noch einmal auf die Jugendlichen. »Ich finde euch«, raunte er ihnen noch zu, dann ergriff er die Flucht vor den Wachen, die ihm hinterherstürmten.
Nur zwei der Männer blieben zurück. Sie kümmerten sich um die brennende Karre. Gemeinsam ergriffen sie die Deichsel und zogen sie so aus dem Gang nach draußen.
Simon und seine Freunde blieben in dem Getümmel unerkannt. Moon schaute um die Ecke. »Folgt mir!«, flüsterte er.
Hinter dem Indianer liefen sie durch den Gang. Simon wunderte sich, dass niemand mehr aus dem Saal zu ihnen herauskam. Es waren Stimmen zu hören. Auch Musik.
Der Rauch der Flammen schwebte noch in dem Gang. Dennoch konnten sie endlich einen Blick in den Saal werfen: Es war ein riesiger Raum, in dessen Seitenwände Röhren eingelassen worden waren. Einige Diener waren damit beschäftigt, Flüssigkeiten als Opfergaben in diese Einlassungen fließen zu lassen. Unter der hohen Gewölbedecke des Saals war die Zeremonie bereits in vollem Gange. In der Mitte des Raums, auf einem langen, aus Lehmziegeln gemauerten Tisch, war der Leichnam des Königs aufgebahrt. Sein Körper lag in einem Sarg aus Ton. Nur sein bleicher Kopf, der auf einem Kissen aus Schilf ruhte, schaute aus dem Sarkophag heraus. Überall auf dem getöpferten Sarg waren keilförmige Schriftzeichen eingearbeitet.
Im ganzen Saal verteilt konnte Simon weitere Diener des Königs erkennen. Es mussten fast einhundert Menschen sein: Männer, Frauen und Kinder. Einige von ihnen lagen am Boden, zum Teil mit verdrehten Gliedmaßen. Sie mussten bereits das Gift getrunken haben.
Direkt neben dem Sarg entdeckte Simon einen Mann, der gerade einen Becher ansetzte. Er glich Ban-Kuu, dem Schreiber, aufs Haar.
Es gab Simon einen Stich ins Herz. Für diesen Mann, den geliebten Bruder des Schreibers, kam jede Hilfe zu spät. Das Gift breitete sich gewiss schon in seinem Körper aus.
Hinter dem Mann warteten weitere Leute darauf, den Becher gereicht zu bekommen. Aus manchen Gesichtern konnte Simon den Stolz der Leute herauslesen, mit dem sie diese Zeremonie bestritten. Keine Frage: Sie gingen gern mit ihrem Herrn in die Unterwelt. Vor allem die Soldaten, die sich neben den Opferröhren in den Wänden verteilt hatten, blickten erwartungsvoll auf ihren verstorbenen Herrscher.
Doch sehr vielen Menschen war auch ihre Angst und ihre Verzweiflung anzusehen. Vor allem die Jugendlichen und die Kinder wirkten verängstigt. Viele weinten. Kleine klammerten sich Hilfe suchend an die Größeren. Mädchen lagen sich in den Armen, um sich gegenseitig zu trösten. Und ein Junge fiel Simon auf, der sich in eine Ecke verkrochen hatte und das ganze Geschehen bibbernd verfolgte.
Am Fuße des Königs spielten zwei Männer leise auf riesigen Harfen, die mit Stierköpfen verziert waren.
Nun verstand Simon, warum keiner von ihnen in den Gang geeilt war. Diese Menschen waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um den Tumult vor ihrem Saal zu bemerken. Sie hatten bereits mit dem Leben
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