Schattengreifer - Die Zeitenfestung
sich die Realität erklären, in der sie heute Morgen erwacht war.
Kaum zu glauben, dass keine zwölf Stunden vergangen waren, seit ihre ganze Welt noch in Ordnung gewesen war.
Noch einmal griff sie sich den Block und starrte auf Simons Handschrift. Das alles sagte ihr kaum etwas. Lediglich einige der Namen erkannte sie wieder. Simon hatte ihr ja von seinen Freunden erzählt. Und viele dieser Namen hatte Simon am Morgen am Strand so verzweifelt herausgeschrien, kurz nachdem er wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
Ein Geräusch holte sie aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit: Schritte auf dem Kies. Jemand kam die Einfahrt zum Haus herauf. Jessica sah sich hektisch um und stieß leise einen Fluch aus. Sie wollte jetzt keinen Besuch empfangen. Doch alle Fenster standen offen, wahrscheinlich sogar noch die Haustür. Sie konnte also nicht so tun, als sei sie nicht hier.
Mit dem Ärmel ihrer Bluse wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Und dann klopfte es auch schon an der Tür.
»Hallo? Jemand da?«
Jessica erkannte die Stimme sofort: Tom. Simons Freund. Ihr Ärger über die Störung verflog sofort. Jetzt freute sie sich regelrecht über Toms Anwesenheit. Er, mit seiner offenen und ehrlichen Art, war vielleicht genau die richtige Gesprächsperson in diesem Moment.
»Ich bin hier oben, Tom. In Simons Zimmer.«
Sie hörte, wie er ins Haus hineinlief und die Stufen hinaufstürmte.
»Hallo, Jessica.« Er verströmte wie gewohnt seine gute Laune. »Ist Simon hier? Er war heute nicht in der Schule, und ich dachte, ich schau mal vorbei, um … Was ist los?«
Es war Jessica unangenehm, doch sie konnte nicht anders. Die Tränen flossen ihr wieder über die Wangen, und sie konnte Tom nur noch verschwommen wahrnehmen. Sie musste einen jämmerlichen Eindruck auf ihn machen.
Tom kniete sich neben sie auf den Boden. Er warf kurz einen Blick auf den Notizblock und die Bücher, die noch immer auf dem Boden verstreut lagen, dann wandte er sich besorgt Jessica zu.
»Ist was passiert?«
»Du würdest es mir nicht glauben, Tom«, schluchzte Jessica. »Das alles ist so verworren. So verrückt.«
Tom kramte aus seiner Hose ein Taschentuch hervor und reichte es ihr. »Ist Simon hier?«
Jessica schnäuzte sich so lautstark die Nase, dass es ihr vor Tom peinlich war.
»Ich weiß nicht, wo er ist. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob er sich noch in dieser Welt befindet.«
»Jetzt klingt es wirklich verworren. Selbst für einen üblicherweise verwirrten Typen wie mich«, antwortete Tom lächelnd und entlockte Jessica damit immerhin ein kurzes Lächeln. »Willst du mir nicht alles erzählen? Verrückte Sachen schrecken mich nicht ab.«
»Das könnte sich schnell ändern«, antwortete Jessica knapp, doch dann fasste sie sich ein Herz. Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, der ihr diese ganz unglaubliche Geschichte abnahm, dann war es sicherlich Tom. Sie musste es versuchen.Schlimmstenfalls würde er sie für geistesgestört erklären. Und zu dem elenden Eindruck, den sie ohnehin schon machte, würde das vielleicht sogar passen. Dennoch: Sie musste darüber reden. Vielleicht war es ein Glücksfall, dass Tom hier war.
Sie griff sich Simons Notizbuch und stand auf.
»Komm mit nach unten. Ich hol uns ein Glas Saft. Und dann werde ich dir erzählen, was ich weiß. Und du wirst mich ins Irrenhaus bringen lassen.«
Auch Tom erhob sich. »Klingt nach einem guten Plan«, antwortete er. »Zumindest die Sache mit dem Saft und der Geschichte.«
»Ihr gehört nicht hierher!« Der Wache war anzusehen, wie sehr sie die Störung der Zeremonie verärgerte.
»Ihr gehört auch nicht zu uns!«, meinte die zweite Wache. »Und dennoch könnt ihr uns auf unserem Weg begleiten.« Schon holte der Mann mit dem Speer aus, um die Spitze der Waffe direkt in Nefertis Herz zu stoßen, als ein gellender Schrei sie alle unterbrach.
Eine der Frauen zeigte auf die Wand neben dem Eingang, wo sich der Schatten des Magiers breit abzeichnete. In seinen schwarzen Klauen hielt er einen zweiten Schatten: Nin-Sis.
Die Wachen wandten sich um und hielten ihre Speere in Richtung des Eingangs. »Was ist das?«
Nin-Si klammerte sich an Neferti. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf den sich wehrenden Schatten in der Gewalt des Magierschattens. Sie erkannte ihn sofort, und alle Farbe fuhr ihr aus dem Gesicht.
»Gehört dieser Schatten dem Magier, von dem ihr gesprochen habt?«, fragte sie.
»Ja, Nin-Si. Das ist der Schatten des Schattengreifers«,
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