Schattengreifer - Die Zeitenfestung
abgeschlossen und konzentrierten sich auf das, was sie im Totenreich wohl erwarten würde. In der Welt der Dunkelheit und des Staubs, wie der Schreiber es genannt hatte.
Die Wachen, die gerade den Schattengreifer verfolgten, mussten unmittelbar an der Tür gestanden haben. Vielleicht waren sie nicht Teil der Zeremonie, sondern hatten lediglich den Auftrag gehabt, alles zu überwachen.
»Dort!« Neferti zerrte Simon am Arm. »Nin-Si!«
Die Jungs blickten rasch in die Richtung, die Neferti ihnen zeigte. Nin-Si lag auf dem Boden, die Augen geschlossen. Ihr Kopf ruhte auf einem Korb voller Früchte.
»Oh, nein! Wir kommen zu spät!«, hauchte Neferti. Der Schreck hatte ihr die Stimme genommen. Hastig eilte sie zu ihrer Freundin und kniete sich an ihre Seite. »Nin-Si«, flüsterte sie und streckte eine Hand nach Nin-Sis Gesicht aus.
Das Mädchen hob den Kopf, und Neferti strahlte sie an. Auch Caspar, Moon und Simon standen nun neben den beiden.
»Wer seid ihr?«, erkundigte sich Nin-Si überrascht, während sie sich aufsetzte.
»Hast du schon von dem Becher getrunken?«, ignorierte Caspar ihre Frage.
Nin-Si schüttelte den Kopf. »Das ist erst einmal den Priestern und den obersten Vertrauensleuten des Königs vorbehalten. Woher kommt ihr, dass ihr das nicht wisst?«
»Wir sind Freunde«, antwortete Neferti. »Wir möchten dich mit uns nehmen. Wir wollen nicht, dass du in den Tod gehst.«
Ein Hoffnungsschimmer zog über Nin-Sis Gesicht, doch dann versteinerte ihr Gesichtsausdruck wieder. »Alle gehen mit dem Herrscher in die Unterwelt. Und ich …«
»… du nicht!«, erwiderte Neferti. »Du kommst mit uns.«
Simon blickte sich um. Niemand nahm Notiz von ihnen. Jeder hier war so sehr mit sich beschäftigt, dass keiner die Jugendlichen bemerkte.
»Gespenstisch«, flüsterte er.
Caspar kniete sich neben Nin-Si. »Du kennst uns nicht. Aber wir kennen dich. Es gibt eine Zeit und einen Raum, von denen du nichts ahnst. Ein mächtiger Magier hält uns dort fest. Und du gehörst dazu.«
»Ich?«
»Wir sind die Zeitenkrieger«, sagte Moon. »Du bist eine von uns.«
»Eine von euch?«, erwiderte Nin-Si verständnislos. »Wie kann ich eine von euch sein, wenn ich euch nicht einmal kenne?«
Sie stieß Neferti verwirrt von sich, und Simon bemerkte, dass sie nun doch die Aufmerksamkeit einiger umstehender Personen erregt hatten. Zwei Wachen schauten sich nach ihnen um und verließen gerade ihren Posten, die Speere in ihren Händen wurfbereit.
»Wir müssen uns beeilen«, brummte Simon seinen Freunden zu. »Man hat uns entdeckt!«
Neferti ergriff Nin-Sis Hand. »Komm. Wir erklären dir alles später.«
Doch Nin-Si schüttelte den Kopf. »Nein! Ihr macht mir ebensolche Angst wie der Giftbecher und der Weg, den ich hier antreten soll. Ihr redet von einem Magier und von einer anderen Welt, und ich verstehe euch nicht.«
»Wir müssen los!«, brummte Simon noch einmal. Die Wachen hatten sie beinahe erreicht.
»Glaub uns einfach und komm mit!«, bat Neferti mit Nachdruck. Aber Nin-Si schüttelte abermals den Kopf. »Ich kenne euch nicht. Und ich kenne auch diesen Magier nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid und was ihr wollt. Ihr macht mir Angst. Auch, wenn ich euch gern glauben möchte.«
Simon wandte sich ihr zu: »Nin-Si, bitte. Du musst …«
Eine Speerspitze, die direkt vor seinem Gesicht auftauchte, unterbrach ihn.
»Wer seid ihr?«, herrschte ihn eine Stimme an.
Simon sah hoch zu der Wache, die ihn finster anschaute und deren Speer ihn bedrohte, während die zweite Wache sich mit gezücktem Speer vor seinen Freunden aufbaute. Und ihm entgingen auch nicht die übrigen Wachen, die gerade ihre Posten an den Opferröhren verließen und auf sie zukamen.
Der Notizblock fiel ihr raschelnd aus den Händen. Ihre Sorge nahm ihr allmählich alle Kraft. Sie war nicht einmal mehr imstande, dieses Heft in Händen zu halten.
Jessica kniete vor Simons Schatzkiste, vor der offenen Schublade seines Nachttisches, in dem er seine liebsten Bücher aufbewahrte, und starrte auf die vielen Notizen: Namen, Begriffe, Jahreszahlen.
Sie zitterte vor Aufregung.
Die beiden Menschen, die sie am meisten liebte, befanden sich in Lebensgefahr. Und sie war außerstande, ihnen zu helfen. Ja, mehr noch: Sie konnte die Gefahr nicht einmal einschätzen.
Alles, was Simon ihr erzählt hatte, ging ihr wieder und wieder durch den Kopf. Das alles war so unglaublich. Doches musste wahr sein. Nur mit solch einer unrealistischen Geschichte ließ
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