Schattengreifer - Die Zeitenfestung
leichter möglich, seine Welt zu verlassen und jede andere zu besuchen.
Nun saß sie also hier, vor Christians steinerner Zelle. Sie rührte sich nicht. Sie saß einfach nur da und starrte zu ihm hinein.
War sie als Wache gekommen? Oder hatte sie ganz andere Absichten?
Was es auch war, eines wurde Christian in diesem Moment bewusst: Er würde aus dieser Zelle niemals entkommen. Selbst wenn er die Gitterstäbe hätte herausreißen können: An dem Tiger und vor allem an der riesigen Krähe würde er niemals vorbeikommen.
Entmutigt ließ er sich in die Hocke sinken. Sein Mut schwand. Seine Hoffnung ebenso.
Er war verdammt zu warten, bis der Schattengreifer wieder erscheinen würde. Oder bis die Krähe zu ihm in die Zelle kam.
Simon kam ihm wieder in den Sinn. Christian hoffte inständig, dass wenigstens er außer Gefahr war.
Was immer in dieser Zelle geschehen sollte, wichtig war, dass es Simon gut ging und dass er den Klauen des Magiers entkommen war.
Er musste hoffen.
Er musste daran glauben.
Denn für Christian war diese Hoffnung der einzig tröstliche Gedanke in dieser untröstlichen Situation.Plötzlich hielt Simon inne. Er fror. Es war ihm, als lege sich gerade eine eisige Kälte über ihn. Wie ein Windhauch, der ihm in die Knochen fuhr. Wie ein frostiger Schatten, der sich über ihn spannte. Es schüttelte ihn.
Da bemerkte er, wie ihm etwas von hinten das Licht stahl. Tatsächlich: Ein Schatten streifte ihn. Ein Schatten, dessen Spitze sich vor Simon auf dem Boden abzeichnete: ein schmaler Kopf. Dann waren Schultern zu erkennen. Wieder ungewohnt schmal. Simon stockte der Atem: Der Schatten, der sich vor ihm auf dem Boden abzeichnete, hielt einen weiteren Schatten in seinen Händen, der sich wehrte. Es war der eines Mädchens mit hochgesteckter Frisur und eng anliegendem Kleid: Nin-Sis Schatten.
Simon verstand augenblicklich: Der Schattengreifer ging unmittelbar hinter ihm her. Er war auf dem Weg zur Begräbniszeremonie, um Nin-Si für immer ihrem schrecklichen Schicksal zu überlassen.
Simon unterdrückte mit aller Macht den Reflex, sich nach dem Magier umzudrehen. Ganz sicher hatte der Schattengreifer ihn noch nicht erkannt. Sonst hätte er längst gehandelt und ihn mit einem seiner Zauber getroffen.
Simons Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Im Bruchteil von nur einer Sekunde spielte er alle Möglichkeiten durch, die ihm blieben: Er könnte dem Magier den Karren in die Beine rammen und ihn so zu Fall bringen. Doch diese Idee verwarf er sehr schnell wieder. Es würde nur einen Augenblick brauchen, bis der Schattengreifer wieder auf den Beinen stünde. Und dann hätte Simon keine Chance gegen ihn.
Simon könnte losrennen. Aber das würde erst recht Verdacht erregen. Und vor allem wusste Simon nicht, wohin er musste.Sie befanden sich zwar im Palast, doch er wusste ja nicht, in welchem Raum die Zeremonie stattfinden sollte.
Er könnte die anderen warnen, dachte er noch, aber auch das würde dem Magier auffallen.
Ihm blieb nur eines: Augen zu und durch und das Beste hoffen.
Schon hatte der Magier weiter aufgeholt. Aus dem Blickwinkel erkannte Simon jetzt den Körper des Schattengreifers, wie er an der Karre vorbeieilte. Simon senkte den Kopf und bückte sich leicht vor. Seine Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Wenn der Schattengreifer ihn jetzt entdecken würde …
Mit Entsetzen nahm Simon wahr, wie der Magier seine linke, seine freie Hand ausstreckte und sie scheinbar über ihn legte. Simon duckte sich und machte sich innerlich auf alles gefasst, doch in diesem Moment zog der Schattengreifer seine Hand wieder zurück. Er zog an Simon vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Anscheinend hielt er diesen Händler mit seiner Obstkarre für zu unbedeutend, als dass er sich mit ihm befassen wollte. Offensichtlich hatte er es sehr eilig, Nin-Si ihren Schatten zurückzubringen.
Dieser wand sich mehr und mehr in der Faust des Magierschattens. Simon schauderte. Jetzt, wo er den Schattengreifer in voller Größe vor sich sah, wirkten die beiden Schatten, die er warf, noch weitaus unheimlicher.
Simon sah dem Magier weiter nach, und als dieser um die Ecke bog, grinste Simon erleichtert. Daran hatte er gar nicht gedacht: Der Schattengreifer führte ihn nun geradewegs in den Begräbnissaal. Sofort beschleunigte Simon seinen Gang.
»Könnt ihr mich hören?«, flüsterte er dabei seinen Freunden in ihrem Versteck zu.
»Was ist?«, zischte es aus der Karre heraus.
»Er ist hier!«
Schweigen.
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