Schattengreifer - Die Zeitenfestung
gelungen, und niemand hatte je wieder etwas von ihnen gehört oder gesehen.
Tom lief es kalt den Rücken hinunter: fehlende Schatten. Das war es doch, was Jessica ihm vorhin erzählt hatte, von diesem Magier, der Jugendlichen den Schatten stahl, um sie an sich zu binden.
Für Tom war die Sache klar: Dieser Absatz des Artikels war neu. Und er hatte ihn jetzt erst finden können, weil Simon mit seinen Freunden in dieser Stadt gewesen war. Wahrscheinlich wurden die Mädchen seiner Gruppe für Hexen gehalten, weil ihnen die Schatten fehlten. Und dieser Hexenmeister, von dem die Rede war – handelte es sich dabei um Simon?
Tom hatte einen ersten Beweis gefunden. Jessicas Bericht stimmte. Alles war so verlaufen, wie Simon es ihr erzählt hatte – auch wenn das alles unfassbar klang.
»Doch wo steckst du jetzt?«, flüsterte Tom. »Wo finde ich einen Hinweis auf den Ort und auf die Zeit, wohin du jetzt gereist bist?«
Sein Finger bewegte sich wieder über Simons Aufzeichnungen, aber dann zog Tom ihn erschrocken zurück. Jemand hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Blitzartig fuhr Tom herum und blickte der Büchereileiterin in die Augen.
»Feierabend, Tom. Du bekommst schon ganz eckige Augen.«
»Kann ich nicht noch …«
»Seit fünf Stunden sitzt du jetzt hier. Mach Schluss. Komm morgen wieder, ja?«
Morgen, dachte Tom. Vielleicht gibt es für Simon kein Morgen mehr. Doch seufzend musste er nachgeben. Niemals hätte die Frau ihm geglaubt, wonach er hier suchte.
Er schnappte sich den Block. »Dann eben bis morgen«, murmelte er enttäuscht.
»Neuer Tag, neues Glück«, kicherte sie nur, dann führte sie ihn zum Ausgang der Bibliothek und schloss hinter ihm ab.
Tom ließ sich auf der obersten Stufe der Treppe nieder, die zur Schulbücherei führte. Keinesfalls wollte er sich jetzt ausruhen und bis morgen warten. Schließlich hatte er eine erste Spur gefunden.
Sein erster Gedanke war, nach Hause zu laufen und sich dort wieder an den PC zu setzen. Doch dort würden ihm die Geschichtsbücher fehlen und die Lexika, mit denen Simon gearbeitet hatte. In denen vielleicht sogar Notizen steckten.
Toms Hände strichen über Simons Notizblock, dessen Aufzeichnungen er inzwischen fast auswendig kannte. Er schlug die erste Seite wieder auf und ließ einen Finger über eine der Skizzen wandern. Offenbar handelte es sich um eine Art Höhlenzeichnung: eine Jagdszene und daneben mehrere dicke Striche, die Simon mit Sorgfalt gemalt hatte. Tom betrachtete das Bild eingehend, dann hatte er endlich einen Einfall. Hastig klappte er die erste Seite wieder zu und rannte los, die Stufen der Bücherei hinunter, auf die Straße.
Das Haus ihres Geschichtslehrers stand nicht weit von der Schule entfernt. Simon und Tom kamen jeden Tag auf ihrem Weg zur Schule daran vorbei. Dennoch war Tom völlig außer Atem, als er das Haus erreichte. Er gönnte sich ein paar Sekunden zum Verschnaufen, dann ging er zur Haustür und klingelte.
»Ja?« Herr Mild brauchte wohl einen Moment, um sich klar zu werden, wer da vor ihm stand, als er die Tür öffnete. Tom hatte das Gefühl, den Lehrer bei etwas Wichtigem gestört zu haben. »Ach Tom, du bist das. Ist etwas geschehen?«
»Entschuldigen Sie die Störung«, entgegnete Tom. »Ich habe da etwas, worüber ich gern mit Ihnen reden möchte. Haben Sie kurz Zeit?«
Die buschigen Augenbrauen des Lehrers hoben sich bis über den Brillenrand. »Jetzt?«
»Ich weiß, das ist vielleicht nicht gerade höflich, aber …«
»Wenn es dich nicht stört, dass ich dabei esse«, grinste Herr Mild. »Ich sitze nämlich gerade beim Abendbrot. Komm rein.«
Der Lehrer führte Tom in die Küche, wo auf dem Tisch ein belegtes Brot neben einer dampfenden Tasse Tee wartete. »Magst du auch etwas haben?«, fragte Herr Mild, doch ihm entging nicht Toms Blick auf den Notizblock, den er mit sich führte. »Oh, verstehe. Du hast es eilig. Komm, setz dich!« Und er biss bereits in sein Brot, bevor er sich richtig hingesetzt hatte. »Also, was ist so dringlich?«, murmelte er undeutlich mit dicken Backen.
»Ich möchte Ihnen gern was zeigen«, antwortete Tom. Er legte Simons Notizblock auf den Tisch, schlug die erste Seite auf und zeigte auf die Skizzen, die wie Höhlenmalereien aussahen.
»Kenn ich!«, gab Herr Mild zurück und biss erneut in sein Brot. »Und?«
Toms Augen weiteten sich. »Sie kennen das?«
»Du nicht?«
Tom sah fragend von Herrn Mild zu dem Block und dann wieder zu seinem Lehrer, der sich
Weitere Kostenlose Bücher