Schattengreifer - Die Zeitenfestung
Hals hinweg.
Jessica ahnte sofort, was das bedeutete. Sie sprang auf das Bett und stützte sich mit beiden Händen gegen den Rahmen, um den Riss in seiner Bewegung zu stoppen, gerade so, als könne sie damit das Unheil aufhalten.
Dann fiel ihr Blick auf die offene Schublade neben dem Bett. Simons Notizheft lag dort aufgeschlagen: In dem Heft stand alles, was er sich zu den Zeitenseglern notiert hatte.
Flammen züngelten aus den Seiten heraus, deswegen dieser Geruch. Doch nicht das ganze Heft brannte. Jessica beobachtete, gleichzeitig abgestoßen und fasziniert, wie immer eine Seite des Heftes aufgeblättert wurde und dann in ihrer Bewegung in Flammen aufging, bevor die nächste Seite aufgeblättert wurde und ebenfalls lichterloh verbrannte.
Das war zu viel. Jessica fiel der Länge nach auf das Bett. Es wurde schwarz um sie herum. Und kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, hörte sie noch einmal das Blättern der Heftseite und das Auffauchen der Flammen.
Dieses klackende Geräusch …
Immer und immer wieder.
Der ganze Raum schien davon erfüllt zu sein.
Ein unangenehmes Geräusch. Eines, das durch Mark und Bein zu dringen schien.
Und das kein Ende nahm.
Wieder und wieder dieses Klacken.
Um ihn herum.
Irgendwo.
Simon fiel es schwer, wieder zu sich zu kommen. Sein Inneres wehrte sich gegen das Erwachen. Er wunderte sich nur, dass er überhaupt erwachen konnte. In den Höhlengängen war er sich sicher gewesen, dass die Schatten ihnen das Leben nehmen würden.
Er fror. Wo mochte er sich jetzt befinden? Und was war das für ein Geräusch?
Nur langsam öffnete er die Augen. Er lag auf feuchtem, lehmigem Boden. Boden, den er kannte: Er musste sich noch in der Höhle befinden.
Neben ihm erkannte er Neferti. Sie lag mit geschlossenen Augen auf den nassen Steinen. Zu gern wäre Simon zu ihr gegangen, doch er musste sich erst bewusst werden, ob sie in Sicherheit waren oder ob sie sich weiterhin in Gefahr befanden. Vor allem drängte es ihn, endlich zu erfahren, was dieses fürchterliche Geräusch zu bedeuten hatte.
Vorsichtig hob er den Kopf. Hinter Nefertis Körper konnte er den von Tom entdecken. Und daneben Nin-Sis. Auch Moons Haarschopf konnte Simon ausmachen. Seine weiße Feder steckte noch immer darin.
Simon konnte also davon ausgehen, dass sie alle hier waren. Er drehte seinen Kopf. Tatsächlich: Caspar und Salomon lagen auf der anderen Seite neben ihm. Und direkt neben Simons Schulter entdeckte er die kleine Schiffskrähe.
Sie alle lagen wie im Schlaf um ihn herum. Simon durchfuhr es kalt. Zumindest hoffte er, dass sie alle nur schliefen.
Jetzt bemerkte Simon, dass Salomon zitterte. Er war wach, doch er hielt die Augen geschlossen. Er drückte sie fest zu, wie Simon erkannte, und sofort verstand Simon auch warum: Salomon war schon vor ihm erwacht. Und das, was um sie herum geschah, machte ihm solche Angst, dass er seine Augen lieber geschlossen hielt.
Nun musste also auch Simon einen Blick in den Raum wagen. Wieder war es eine Halle, ähnlich der, in der sie dem Schattengreifer begegnet waren, kurz bevor er das Meer über sie hatte hereinbrechen lassen. Auch diese Halle hatte zahlreiche halbrunde Pforten, die zu Höhlengängen führten. Allerdings: Über ihnen gab es keine Glaskuppel. Sie waren in einem mächtigen Saal, vermutlich tief, tief unter der Erde.
Die Wände zwischen den Pforten schienen sich zu bewegen. Etwas ging dort vor sich.
Simon fühlte sich noch zu benommen, um direkt zu verstehen, worauf er blickte.
Die Wände bewegten sich wellenartig. Immer wieder stieß etwas hervor und zog sich dann wieder zurück. Dann wiederholte sich diese Bewegung an einer anderen Stelle. Dazu dieses grauenhafte klackende Geräusch.
Simon strengte seine Augen an. Er verengte sie zu Schlitzen, bis …
Seine Augen weiteten sich vor Grauen, als er endlich erkannte, was um sie herum vor sich ging. Eine völlig groteske Szene spielte sich vor ihm ab:
Die Wände, die sich bewegten, bestanden ausschließlich aus Krähen. Sie standen aufeinander und nebeneinander, dicht an dicht. Wo Simon auch hinsah: Rund um ihn herumerkannte er nur Federn und Schnäbel. Einzig die Pforten hatten die Krähen freigelassen. Doch von den eigentlichen Wänden der Höhlen konnte Simon nichts erkennen. Keine Erde, keine Steine. Die gesamten Wände waren bis an die Decke der unterirdischen Halle mit Krähen angefüllt. Eine in die andere verhakt. Das klackende Geräusch stammte von ihren Schnäbeln, die sie immer wieder
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