Schattengreifer - Die Zeitenfestung
öffneten und dann lautstark zufallen ließen.
Das eigentlich Groteske jedoch spielte sich vor dieser Mauer aus Vögeln ab: Schatten, wie Simon sie in den Höhlengängen erlebt hatte, huschten vor den Krähen auf und ab. Immer wieder einmal versuchte ein Schatten, eine der Krähen zu greifen. Doch dann schnellte diese hervor und wehrte sich.
So entstanden die wellenartigen Bewegungen: Einer der Schatten näherte sich mit seinen Händen einer Krähe, und die schoss hervor und zuckte gleich wieder zurück, während die Krähen um sie herum die Balance hielten.
Simon ahnte plötzlich, was es mit diesen Schatten auf sich haben könnte. Sie alle waren einst Menschen gewesen. Wie die kleine Krähe, die Simon so ins Herz geschlossen hatte und die gerade bewusstlos an seiner Seite lag. Doch wenn dies so war, dann trugen alle diese Krähen die Seelen von Menschen in sich, und Simon vermutete, dass die Schatten, die er gerade beobachtete, von diesen Menschen stammten. Vielleicht versuchten sie gerade, sich ihre Seelen, ihre Körper, zurückzuholen. Doch die Krähen verweigerten sich.
Was sich hier vor Simon abspielte, war wie ein geisterhafter Tanz. Wie ein unheimliches Schauspiel. Es faszinierte ihn und widerte ihn gleichzeitig an.
Und plötzlich stoppte das Geräusch. So urplötzlich, dass es in Simons Ohren noch wie ein Echo widerhallte. Die Krähen schlossen ihre Schnäbel und richteten ihre Blicke auf einen Punkt hinter Simon. Auch die Schatten drehten sich allesamt in diese Richtung um.
Simon wandte den Kopf und schaute ebenfalls hinter sich.
Er erblickte ein bekanntes Gesicht: Die riesige Krähe des Schattengreifers, seine Vertraute, seine Gefährtin, thronte auf einem Felsvorsprung über einem der Portale und sah sich mit strengem Blick in der Halle um.
Simon bemerkte, wie sich neben ihm etwas bewegte. Neferti erwachte. Und Tom ebenfalls. Alle seine Freunde kamen zu sich. Selbst die kleine Krähe schüttelte benommen ihr Gefieder.
Simon fiel ein Stein vom Herzen. Sie lebten!
Auch Salomon schlug nun die Augen auf. Sein Blick traf auf Simons, und es tat Salomon sichtlich gut, die anderen in seiner Nähe zu wissen. Die Angst wich aus seinem Gesicht.
Doch dann sprach die riesige Krähe zu ihnen.
Nicht nur ihre Worte jagten den Jugendlichen Angst ein, sondern vor allem ihre Stimme. Sie durchschnitt die Stille der Halle mit der Stimme ihres Meisters: »Es war ein Fehler von euch, diese Höhlen aufzusuchen.« Die Stimme des Schattengreifers wurde von der Halle als vielfaches Echo verstärkt. »Ihr wärt besser geflohen.«
Die Jugendlichen hielten ihren Blick auf die Krähe gerichtet, doch aus den Augenwinkeln bemerkte Simon, wie die Schatten um sie herum langsam von der Wand abrückten und auf sie zukamen. Sie verengten erneut den Kreis um die Freunde.
Lautlos.
Stück für Stück.
Die Krähe schwieg. Stattdessen war ein anderes Geräusch zu hören. Aus dem Portal, über dem die Krähe thronte, erklang ein tiefes Knurren.
Die Freunde stellten sich auf ihre Füße. Dicht beieinander.
Das Knurren wurde lauter. Und schließlich formte sich aus dem Dunkel des Tunnels die Gestalt eines Tigers heraus.
»Was…!«
Die Freunde blickten ungläubig auf das riesige Tier. Vor ihnen stand ein echter Säbelzahntiger. Er wirkte alt und erschöpft, doch durch seine langen, gebogenen Zähne nicht weniger Angst einflößend. Sein Knurren erfüllte jetzt die ganze Halle. Er bleckte seine Zähne, drehte den Kopf und brüllte schließlich so ohrenbetäubend auf, dass die Freunde noch enger zusammenrückten.
Nein, das Alter hatte diesem Tier nichts von seinem Schrecken genommen.
Caspar zog das letzte Messer, das noch in seinem Gürtel steckte. Auch Basrar griff an seinen Gürtel, doch sein Schwert musste noch in den Gängen der Höhle liegen. Dort, wo er es im Kampf gegen die Schatten verloren hatte.
In diesem Moment sprach die Krähe von der Pforte herab mit der Stimme des Schattengreifers weiter: »Ihr seid in mein Reich eingedrungen. Und das war ein Fehler. Hier, in diesen Hallen, ist meine Macht am stärksten. Mit dem ersten Schritt in die Höhlen habt ihr euer Schicksal besiegelt. Hier unten habt ihr keine Chance gegen meine Magie.«
Simon blickte sich um. Wo war der Magier selbst? Warum war er nicht hier? Wieso sprach er durch diese Krähe zu ihnen?
Der Kreis der Schattengestalten um sie herum verengte sich weiter. Die Krähe fuhr mit ihrer Rede fort: »Ihr habt erlebt, wozu meine Untergebenen fähig sind. Es braucht
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