Schattengrund
einem schlechten Charles-Dickens-Film. Der Fremde war einen Kopf größer als sie und hatte, wie er nun die Hände in die Vordertaschen seiner Outdoor-Hose schob, etwas derart unverschämt Lässiges, dass sie ihn am liebsten so stehen gelassen hätte.
»Die Hauptstraße ist gesperrt. Mehrere Äste sind durch die Schneelast abgebrochen und auf die Fahrbahn gefallen. Das hier«, er wies mit einer Kopfbewegung auf den schmalen Weg, der sich hinter den Scheinwerfern in absoluter Finsternis verlor, »ist der einzige Zugang, den es noch nach Siebenlehen gibt. Und wenn wir uns nicht beeilen, ist auch der demnächst verschwunden. Wohl keinen Wetterbericht gehört, was?«
Er ging zu seinem Wagen und öffnete die Beifahrertür. Nico überlegte nicht lange. Er schien zumindest nicht vorzuhaben, sie umzubringen. Wenn das tatsächlich der Wanderweg auf den Brocken war, dann war sie grandios in die Irre gelaufen. Zurück nach Altenbrunn war es eine Stunde. Und ob sie um diese Uhrzeit noch ein Zimmer bekommen würde …
»Okay. Danke.«
Am Wagen nahm er ihr die Tasche ab und warf sie auf den Rücksitz.
»Moment! Ich hab noch was vergessen.« Sie drehte sich um und lief zurück auf den Weg. »Können Sie noch mal leuchten? Ich habe was verloren.«
Er knipste die Taschenlampe an und folgte ihr. Die Reifen des Jeeps hatten den Besen tief in den Schnee gedrückt. Sie bückte sich und begann, ihn auszugraben.
»Oh nein!« Anklagend hielt sie ihm den halben Stiel entgegen. »Er ist kaputt!«
Neugierig kam der Fremde näher. »Was ist das?«
Sie scharrte die andere Hälfte heraus und kam wieder auf die Beine.
»Ein … Besen?«, fragte er. »Sie laufen nachts bei minus zehn Grad auf den Brocken – mit einem Badeanzug und einem Besen?«
Nico marschierte wortlos zum Wagen und warf beide Teile des Besens auf ihre Reisetasche. Dann stieg sie ein und knallte die Tür zu. Der Mann öffnete die Fahrertür und nahm ebenfalls Platz. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und startete den Motor. Die Lichter des Armaturenbrettes beleuchteten sein Gesicht. Es war schmal, mit einer gerade geschnittenen Nase und einem eigentlich sanft wirkenden Mund, wenn nicht dieses spöttische Lächeln gewesen wäre. Er drehte sich zu ihr um, und sie bemerkte, dass er dunkle Augen hatte. Braune Haarfransen fielen ihm in die Stirn. Er sah gut aus. Aber den Blick, mit dem er sie ansah, hätte er sich schenken können.
»Wohl zu viele Märchen gelesen, was?«, fragte er und fuhr los.
Der Jeep war neu und musste ein Vermögen gekostet haben. Ihr Retter beherrschte ihn, als wäre er ein lebendiges Wesen. Er trieb ihn über Schwellen und Anhöhen, hielt ihn zurück, wenn es wieder bergab über Stock und Stein ging. Er schien die Gegend wie seine Westentasche zu kennen, denn trotz der eingeschränkten Sicht hatte Nico, anders als beim Busfahrer, nicht das Gefühl, Todesängste ausstehen zu müssen. Im Gegenteil. Es war warm im Wagen, und der Typ hatte auch mit seiner Angewohnheit aufgehört, dämliche Fragen zu stellen, auf die es keine anderen als noch dämlichere Antworten geben konnte. Nico fühlte sich sicher und spürte, wie sie langsam auftaute. Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Weg sich verbreiterte. Sie erkannte einen völlig zugeschneiten Wegweiser.
»Sie sind ohne Lampe und Ausrüstung einfach so losgegangen?«
Er schaltete einen Gang herunter und drosselte den Motor, um eine enge Kurve zu nehmen. Der Wegweiser verschwand. Nico hätte schwören können, die geschnitzte Silhouette einer Hexe darauf erkannt zu haben.
»Es sind keine vier Kilometer. Ich dachte, das schaffe ich locker.«
»Wenn Sie die richtige Straße genommen hätten. Aber dieser Weg ist schon was für Fortgeschrittene. Sie hätten sich spätestens hier oben verirrt.«
Nico fröstelte. Ihr Fahrer schien es zu bemerken, jedenfalls stellte er die Heizung noch eine Stufe höher.
»Wo wollen Sie eigentlich hin in Siebenlehen? Das Hotel ist seit dem Sommer geschlossen.«
»Ich will nicht ins Hotel. Ich komme privat unter.«
»Bei wem?« Er sah sie wieder prüfend an. »Ich kenne alle in Siebenlehen. Es ist ein kleines Dorf. Da spricht es sich sowieso rum.«
Etwas in Nico flüsterte, ihm, einem Fremden, dem sie mitten in einem Schneetreiben begegnet war, nicht gleich alles zu verraten. Er hielt sie nicht erst seit dem Besen für nicht ganz zurechnungsfähig.
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße Leon. Leon Urban. Meine Familie kommt aus Siebenlehen, lebt aber seit zwei Generationen
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