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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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sie nur noch eine wirbelnde weiße Wand. »Hallo?«
    Die Lichter kamen näher, noch näher. In letzter Sekunde warf sich Nico zur Seite. Der Aufprall im Schnee war hart. Sie hörte brechendes Holz und ein dumpfes Poltern – wahrscheinlich hatte dieser Irre auch noch ihre Reisetasche auf dem Gewissen –, rasselnde Schneeketten, ein letztes Aufbäumen des Motors, eine quietschende Bremse, das Schlagen einer Tür. Sie lag volle Breitseite mit dem Gesicht in einer Schneewehe und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Schritte näherten sich. Es hörte sich an, als liefe jemand durch quietschendes Plastikpulver.
    »Alles in Ordnung?« Eine Männerstimme, jung. Anfänger. Vollpfosten.
    Nico stützte sich auf die Arme, prustete, schüttelte sich, rieb sich den Schnee aus dem Gesicht und hob die Hand vor die Augen. Sogar die Rücklichter des Wagens blendeten noch. Ihr wurde bewusst, dass sie aussehen musste wie ein Yeti. Sie rang nach Luft und nach Worten, als er noch einen Schritt auf sie zutrat und sie am Arm packte.
    »Sind Sie völlig verrückt geworden? Haben Sie sich verlaufen? Kein Mensch nimmt bei diesem Wetter den Wanderweg auf den Brocken!«
    Mühsam kam sie mit seiner Hilfe auf die Beine. Er ließ sie los. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie spürte, dass er unsicher geworden war. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, eine Siebzehnjährige über den Haufen zu fahren. Besser gesagt: eine Achtzehnjährige minus drei Tage, dachte sie trotzig.
    »Der Brocken? Wo?« Mehr fiel ihr nicht ein. Sie wollte nach Siebenlehen, nicht mitten in der Nacht auf einen Gipfel. Wahrscheinlich hatte er sich verfranst. Aber da konnte sie ihm auch nicht weiterhelfen.
    Er trat zurück. Sie erkannte die schlanke, hochgewachsene Silhouette eines Bergsteigers. Oder Schlittenhundführers. Oder Polarkreisexpeditionsteilnehmers. Er trug einen dicken, wattierten Anorak mit Kapuze, eine Wollmütze mit Ohrenklappen und kniehohe, extrem derbe Stiefel.
    »Sprechen Sie deutsch? German? English? Français?«
    Der Schnee auf ihrem Gesicht taute. Das Wasser lief ihr die Wangen hinunter. Offenbar hielt er sie für eine durchgeknallte Touristin, die in stockdunkler Nacht auf den höchsten Berg Norddeutschlands klettern wollte. Er machte eine Bewegung und der Lichtstrahl einer Taschenlampe traf ihre Augen. Sie hob die Arme vors Gesicht, weil er sie wieder blendete. Wahrscheinlich war ihr Mund eingefroren, denn während er den Lichtkegel an ihrer Gestalt herunterwandern ließ, ballte sich die Wut in ihr. Was fiel diesem Kerl eigentlich ein?
    » Come on .« Er drehte sich weg und leuchtete die völlig verschneite Straße ab. » We’ll pick up your bag and I will bring you back to Altenbrunn . Crazy.«
    »Ich will nicht nach Altenbrunn.« Sie hatte das Gefühl, ihre Kiefer müssten erst einmal auftauen.
    Der Mann leuchtete ihre Tasche an und ging entschlossen darauf zu. Nico folgte ihm. Die Reifenspur ging quer über den Baumwollstoff. Der Reißverschluss hatte dieser Beanspruchung nicht standhalten können. Er war aufgeplatzt und zu Nicos Entsetzen fielen beim Aufheben ihr Pyjama und ein Paar Hausschuhe heraus – die dicksten, wärmsten, die sie besaß. Dunkelblauer Plüsch mit je einem Bärchenkopf an der Fußspitze und entzückenden, treuen Knopfaugen aus Glas. Sie hatte sie nie getragen. Und sie schwor sich in diesem Moment, in dem ihr merkwürdiger Retter ein Schnauben ausstieß, das sich verdächtig nach einem unterdrückten Lachen anhörte, es auch niemals zu tun.
    »Hier«, sagte er. »Sie haben noch etwas verloren. Einen … ähm … Badeanzug?«
    Sie riss ihm das Teil aus der Hand. »Ja. Danke. Ich will nach Siebenlehen. Lassen Sie sich nicht aufhalten. Weit kann es ja nicht mehr sein.«
    Sie stopfte alles in die total ramponierte Tasche zurück. Etwas schepperte. Wahrscheinlich war der MP3-Player samt Zahnbürste ein Fall für den Müll. Aber sie wäre lieber gestorben, als den Rest ihrer Habe hier vor diesem rücksichtslosen Wilderer auszubreiten.
    »Da sind Sie aber ganz schön auf dem Holzweg. Wohl nicht in die Wanderkarte geguckt, was?«
    Konnte er nicht einfach seinen Mund halten? Sie klemmte die Überreste ihrer Tasche unter den Arm und sah sich suchend um.
    »Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit. Ich muss da nämlich auch hin.«
    »Mit einem Jeep über den Wanderweg? Wohl kein Navi dabei, was?«
    Er grinste, wahrscheinlich. Genau konnte das Nico nicht erkennen, denn der Schnee fiel mittlerweile so dicht wie in

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