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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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in Wales. Ich studiere Geologie in Durham, das liegt im Nordosten Englands. Schon mal gehört?«
    »Nein.«
    »Und wie heißen … wie heißt du?«
    Er bog in die nächste Kurve ein und machte das so schnell, dass Nico sich nicht mehr festhalten konnte und nahe, zu nahe an ihn heranrutschte. Sie glaubte nicht, dass er das absichtlich gemacht hatte.
    »Ich heiße Nico!«, rief sie gegen das Aufbrüllen des Motors. »Ich hatte eine Tante, die in Siebenlehen gewohnt hat. Kiana. Kannten Sie – … kanntest du sie?«
    Er antwortete nicht. Der Weg beanspruchte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Er sprach erst wieder, als die Strecke ebener wurde und in der Ferne ein schwacher Lichtschein zu erkennen war. Der Schneefall hatte sich verändert. Statt weicher, nasser Flocken schienen nun wieder winzige Eiskristalle herunterzurieseln. Es war noch kälter geworden. Ihr graute bei dem Gedanken an ein dunkles, fremdes Haus.
    »Wir sind gleich da. Also, wohin soll es gehen?«
    Er hatte sie sicher über den Berg und nach Siebenlehen gebracht. Sie beschloss, zumindest einen Teil ihres Misstrauens aufzugeben.
    »Nach Schattengrund.«
    »Schattengrund. Bist du sicher?«
    »Ja«, antwortete sie. »Kennst du es?«
    Sie näherten sich den ersten Häusern. Wenn es jemals eine Straße gegeben hatte, so war sie verschwunden unter einem weichen Teppich, der sich über Vorgärten und Zäune, auf Dächer und Bäume gelegt hatte wie eine schneeweiße Decke. Über dem Ort schien eine fast unwirkliche, verzauberte Atmosphäre zu liegen. Uralte Fachwerkhäuser duckten sich unter der weißen Last, Eiszapfen hingen an Dachrinnen und Straßenlampen. Einige Tannenbäume waren mit künstlichen Kerzen geschmückt. In manchen der kleinen Fenster leuchteten Schwippbögen, die meisten Bewohner aber hatten die Rolläden heruntergelassen. Siebenlehen wirkte wie ausgestorben. Wie aus einem alten Märchenbuch, dachte Nico, als sie an bizarren, schneeverwehten Bäumen vorüberfuhren. Ein nostalgischer Adventskalender, mit Glitzerstaub verziert und getaucht in den trüben Schein von Gaslaternen.
    Sie kamen an einer kleinen Kirche vorbei. Der Fremde neben ihr bog links ab, dann wieder rechts, und Nico verlor die Orientierung, weil sie sich nicht sattsehen konnte an der fast rührenden Unschuld dieser Welt aus Schnee und Eis. Schließlich erreichten sie eine schmale Straße. Sie führte wieder ein Stück den Berg hinauf, weg von Siebenlehen, weg von den hübschen Häusern und dem gelben, weichen Licht der Straßenlaternen, in dem die glitzernden Flocken tanzten, und endete vor einem Gartenzaun, der fast im Schnee versunken war. Dahinter lag, ein ganzes Stück über dem Dorf, ein dunkles kleines Fachwerkhaus. Schattengrund.
    »Wie hast du es gefunden?«, fragte sie erstaunt.
    Er stellte den Motor ab. »Es gibt niemanden in Siebenlehen, der das nicht weiß.«

Fünf
    Nico stieg aus und landete knietief im Schnee. Noch nicht einmal die Straßen wurden hier geräumt. Ein Wunder, dass der Jeep die Anhöhe überhaupt geschafft hatte. Während Leon ihre Tasche und den zerbrochenen Besen vom Rücksitz holte, kämpfte sie sich zu der Gartenpforte durch. Sie sah auf den ersten Blick, dass sie abgeschlossen war. Doch auch ohne dieses Hindernis hätte sie sie nicht öffnen können: Schattengrund war gut einen Meter hoch eingeschneit. Bevor Leon auf den Gedanken kommen konnte, dass sie keine Schlüssel hatte, war sie auch schon über das Gatter gestiegen.
    »Danke.« Er reichte ihr ihre Habe über den Zaun, und sie versuchte, so unbefangen wie möglich auszusehen. »Das war sehr nett von dir.«
    »Wenn du wieder mal auf den Brocken willst, melde dich. Ich kann dir zumindest sagen, welchen Weg du nicht nehmen solltest.«
    Er sah sich um. Das gefiel Nico, die ungeduldig darauf wartete, dass er endlich den Abflug machte, gar nicht.
    »Sieht nicht so aus, als würdest du erwartet.«
    Die Fensterläden waren geschlossen. Dichtes Gebüsch, vom Schnee halbwegs gnädig bedeckt, säumte den Weg und die Stufen hinauf zum Eingang. Direkt darüber am Dachfirst hingen kolossale Killer-Eiszapfen. Ein paar von ihnen lagen zerschellt vor der Tür, die nur durch einen schmalen Quersturz oberhalb der Pfosten geschützt wurde. Das Haus hatte zwei Stockwerke, beide nicht sehr hoch, und ein niedriges Walmdach, aus dem an der Vorderseite zwei winzige Gauben hinauslugten. Schwere, dunkle Balken stützten die Wände. Die einzelnen Gefache waren dick verputzt und weiß gestrichen. An einigen Stellen

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