Schattengrund
konnte sie ihren Eltern nicht. Aus den Briefen sprach tiefe Sorge. Sie hatten sich für das Verschweigen entschieden und diesen Weg durchgehalten, komme, was wolle. Am liebsten wäre ihnen wohl noch gewesen, wenn der Notartermin gar nicht stattgefunden hätte.
Und Kianas Wunsch? War er wirklich so abwegig? Sie musste der Meinung gewesen sein, dass nur die Erinnerung alte Wunden heilen konnte. Vielleicht hatte Nico die Narben dieser Verletzungen nicht mehr gespürt, weil sie sich an sie gewöhnt hatte. Und an dieses Gefühl, immer außen vor zu bleiben, an die Schüchternheit, die Angst, nicht angenommen zu werden. Zu versagen. In sie gesetzte Erwartungen zu enttäuschen. Erst durch Valerie hatte sich etwas geändert.
Und jetzt durch Schattengrund. Nico stand auf und sah aus dem Fenster hinaus auf das Bilderbuchdorf, über das sich die Nacht gesenkt hatte und hinter dessen Mauern so viel Schmerz und Trauer verborgen waren. In der kurzen Zeit, die sie hier war, hatte sie bereits eine erstaunliche Veränderung mitgemacht. Sie war mutiger geworden. Sie hatte sich offener Ablehnung gestellt und war nicht weggelaufen.
Gut, dachte Nico. Das ist im Moment auch gar nicht möglich. Und was es heißt, für den Tod von Fili verantwortlich zu sein, werde ich wohl noch herausfinden müssen. Zwölf Jahre hat Kiana das für mich getan. Jetzt bin ich an der Reihe.
Sie hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Sie wollte Kiana irgendwie nahe sein. Wo war sie eigentlich begraben? Doch bestimmt auf dem Friedhof von Siebenlehen. Am liebsten hätte sie dem Grab gleich einen Besuch gemacht. Ihr Blick blieb an der altmodischen Pendeluhr hängen, die neben der Tür an der Wand hing. Sie war erstaunlicherweise genau um Mitternacht stehengeblieben.
Doch das Pendel bewegte sich, schwang hin und her. War es schon so spät? Ein Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte ihr, dass sie Stunden über den Briefen gesessen haben musste. Der Raum war kühl, und ihr war nur deshalb so warm, weil ihre Stirn glühte und der Hals kratzte. Sie wurde doch hoffentlich nicht krank? Bei ihrem Glück dürfte es in Siebenlehen noch nicht einmal einen Arzt geben. Sie suchte ihren Schal, aber sie fand ihn nicht.
Mit schmerzenden Gliedern räumte sie die Briefe in die Kiste zurück. Den kalten Tee nahm sie mit nach oben. Vorher kontrollierte sie noch beide Türen und die Fenster. Genauso, wie Leon es ihr gezeigt hatte.
Dreiundzwanzig
Endlich ging das Licht aus. Jetzt konnte er Schattengrund beobachten, ohne dass sie ihn entdecken würde. Er schob die Vorhänge zur Seite. Tapfer war sie, das musste man ihr lassen. Stellte sich der Vergangenheit entgegen, als ob man eine Lawine aufhalten könnte, wenn man ihr »Stopp!« zurief.
Er roch an dem Schal, den er ihr gestohlen hatte. Heimlich, in der Kirche. Hoffentlich hatte sie es nicht gemerkt. Er musste ihn besser verstecken als die Hausschuhe. Um ein Haar wären sie entdeckt worden, und deshalb hatte er sie zurückgebracht. Den Schal würde sie auch wiederbekommen. Er wollte nur noch ein bisschen daran schnuppern. Er duftete nach zarten Blüten und Rauch. Rauch … Er würde ihn ihr um den Hals legen und …
Er schreckte hoch, weil die Glocke schlug. Er zählte mit. Zwölfmal. Mitternacht. Sollte er es heute Nacht tun? Sollte er zu ihr schleichen und sie ansehen, wie er das immer so gerne getan hatte? Oder würden dann die Kindlein wiederkommen, die zarten weißen Gestalten, die ihm ihre Geschichten erzählen wollten, ihre schrecklichen, grausamen, furchtbaren Geschichten, die er nicht hören wollte … nein … nicht hören … nein! Schweigt still – sonst ist das Märchen vorbei und ich habe das Ende nicht mitbekommen! … Dunkel war es, klirrend kalt. Sie weinte Tränen aus Eis. Und sie wusste, warum. Ganz Siebenlehen wusste es. Sie war in Gefahr. Er musste sie warnen. Doch die Kindlein würden das nicht zulassen. Sie waren verloren ohne ihn. Keiner durfte sie finden.
Nein, er konnte sie nicht warnen. Denn der andere folgte ihm auf Schritt und Tritt.
Vierundzwanzig
Nico erwachte am späten Vormittag. Sie hatte geschlafen wie ein Stein, tief und traumlos. Lange lag sie mit offenen Augen im Bett und starrte an die Decke. Schmale Holzbalken trugen die Hauptlast, der Putz dazwischen war weiß gekalkt. Ihre Gedanken schweiften zurück zu Leon, der heimlich im Haus herumgeschnüffelt hatte, den Briefen, die hinter ihrem Rücken geschrieben worden waren, den niederträchtigen Warnungen – angefangen vom
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