Schattengrund
Verlust ihrer Hausschuhe bis hin zu einem verstopften Kamin. Sie dachte an Kianas Buch, das jemand verbrannt hatte, und an Fili, das kleine Mädchen, das sie in den Stollen gelockt und dort seinem Schicksal überlassen haben sollte. Als sie an diesem Punkt angelangt war, stand sie auf.
Wenigstens war das Wasser aus der Dusche heiß. Sie hatte keine Ahnung, wo sich die Sicherungen befanden, und betete, dass der alte Boiler noch durchhielt.
Mit feuchten Haaren und eingemummelt in ihren Wollpullover betrat sie die Küche. Minx streifte mit einem schuldbewussten Schnurren um ihre Knöchel. Ein Blick in die Pfanne verriet ihr, warum: Von den Spiegeleiern, die Leon vor einer Ewigkeit zubereitet hatte, war nichts mehr übrig.
»Wie verfressen bist du eigentlich?«
Minx verschwand unter dem Küchentisch.
»Komm raus! Ich hab es nicht so gemeint. Du hast ja eine Menge nachzuholen.«
Nico rührte sich eine Schüssel Haferflocken mit Milch und Zucker an. Sie bot der Katze pro forma einen Löffel an, der erwartungsgemäß hochnäsig verschmäht wurde. Nico nahm ihr Frühstück mit ins Wohnzimmer und prüfte als Erstes, ob noch Glut im Kachelofen glimmte. Sie stocherte mit dem Schürhaken herum und fand tatsächlich einen Rest unter der Asche. Mit ein paar Holzscheiten konnte sie das Feuer wieder entfachen.
Mit der Schüssel in der Hand trat sie ans Fenster. Beim Blick hinaus hatte sie das Gefühl, auf eine Kinoleinwand zu starren, auf der gerade der Film stehengeblieben war. Nichts rührte sich. Kein Auto. Keine Menschen. Eisblumen blühten am Scheibenrand. Der Himmel war glasig grau, der frisch gefallene Schnee lag mittlerweile bestimmt einen Meter hoch. Leons Van stand immer noch vor dem Haus. Nur geübte Betrachter würden unter dem sanft geschwungenen Hügel ein Auto vermuten.
Leon … Schon das Denken seines Namens versetzte ihr einen Stich. Dann hör doch einfach auf damit, sagte sie sich. Aber wie konnte man das, wenn er allgegenwärtig war?
Während sie die Haferflocken aß, suchte sie einen Nachrichtensender im Radio und bekam wenig später ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
»Noch immer sind die Räumfahrzeuge zwischen Halberstadt und Thale im Einsatz«, hörte sie die sonore Stimme eines Sprechers. »Viele Dörfer im Umkreis sind nach wie vor von der Außenwelt abgeschnitten. Vor allem unter der Schneelast herabgefallene Äste älterer Bäume führen zu Verkehrsbehinderungen. Spaziergänger und Autofahrer werden zu erhöhter Vorsicht gemahnt. In Halberstadt wurden mehrere Personen durch Dachlawinen verletzt. Zur Stunde werden die Hauptverkehrsstraßen geräumt. Der Wetterdienst hat noch keine Entwarnung gegeben. Neue Schneefälle werden im Laufe des Nachmittags und der frühen Abendstunden erwartet. Ein Sprecher der Kreisverwaltung bestätigte, dass die eingeschneiten Dörfer jedoch spätestens am morgigen Dienstag wieder erreichbar sein werden.«
»Na klasse!« Nico schaltete ärgerlich das Radio aus. »Spätestens morgen. Wo bin ich hier eigentlich? Im Himalaja?«
Siebenlehen lag im Winterschlaf. Noch einen Tag länger in diesem Gefängnis. Wie hielten die Leute nur diese Winter aus? Wahrscheinlich ging das nur, weil sie Fernseher und Internet hatten. Nico musste schon froh sein, wenn zwielichtige Typen wie Leon ihr einen Transistor vorbeibrachten.
Sie wurde nicht schlau aus ihm. Gestern hatte es Momente gegeben, in denen sie geglaubt hatte, sie beide würde … ja was? Etwas verbinden? Sie stand genau an der Stelle, an der er sie in den Arm genommen hatte. Eine Ewigkeit schien seitdem vergangen. Sie spürte, dass ihr nicht nur der Verlust von Kianas Märchenbuch naheging. Auch die Stunde, in der sie ihm daraus vorgelesen hatte, hatte ihren Zauber verloren.
»Ich werde mir mal den Friedhof ansehen«, sagte sie. »Und mich von Kiana verabschieden. Dann hat diese Reise wenigstens einen Sinn gehabt.«
Sie schüttelte den Kopf. Hatte sie gerade angefangen, mit sich selbst zu reden?
»Immerhin«, fuhr sie auf dem Weg zurück in die Küche fort, »bei mir weiß ich wenigstens, was ich von meinem Gegenüber zu halten habe.«
Der Friedhof lag, wie Nico vermutet hatte, hinter der Kirche. Gute Geister hatten den Zugang immer wieder freigeräumt und die wenigen Trampelpfade mit Sand bestreut. Ein altertümlicher Eisenzaun grenzte den Anger zur Straße ab. Als sie das Tor öffnete, quietschen die rostigen Angeln. Vorsichtig sah Nico sich um.
Hinter einigen Fenstern an der Straße brannte Licht, so
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