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Schattenhaus

Schattenhaus

Titel: Schattenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
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Gottes zu schlachten. Leider gab es diese Geschichte auch in der christlichen Bibel. Winter schätzte, dass die in Blut geschriebene Botschaft des Täters sich irgendwie auf dieses Menschenopfer bezog.
    Die erste Hypothese war also ein türkischstämmiger Täter. Doch sie mussten nicht lange rätseln. Das Hochhaus war mit einer Videoüberwachung ausgestattet. Das Opfer dieses mörderischen «Opferfestes» war in der Wohnung nur etwa eine Stunde allein gewesen, bevor die Mutter es tot fand. Innerhalb der fraglichen Stunde zeigte das Überwachungsband einen schlanken jungen Mann, der mit einer Plastiktüte in der Hand das Haus betrat. Beim Hereinkommen zog er auffällig seine Kapuze nach vorn, sodass sein Gesicht nicht zu sehen war. Hieraus ließ sich später der Tötungsvorsatz rekonstruieren. Knappe zwanzig Minuten nach dem Kommen des Unbekannten verließ jemand gleicher Gestalt das Haus, der jedoch andere Kleidung trug. Wieder verdeckte er sein Gesicht mit einer Kapuze und Wegdrehen des Kopfes, als er die Kamera passierte. Der zweite Satz Kleider, den der Täter zweifellos in der Tasche mit sich geführt hatte, sprach ebenfalls klar für eine bis ins Detail geplante Tat.
    Die Familie des Toten hatte trotz der Vermummung keinerlei Probleme, die Person auf dem Band zu identifizieren. Von Gang, Statur und Haltung waren alle sicher, dass es sich um Matthias Olsberg handele, den langjährigen Freund des Toten und nach Ansicht des Vaters der schlechte Einfluss, der seinen Sohn auf die schiefe Bahn gebracht hatte.
    Winter erinnerte sich noch, wie Gerd und er damals geflachst hatten, ob es das sei, was die Grünen unter Multikulti verstünden: ein deutscher Täter, der einen Marokkaner tötet und eine türkische Parole in Blut an der Wand hinterlässt.
    Der knapp achtzehnjährige Matthias Olsberg hatte sich zwar bemüht, seine Täterschaft durch die Vermummung zu verschleiern. Doch merkwürdigerweise leugnete er keine Sekunde, als sie ihn verhafteten und mit dem Vorwurf des Mordes an seinem Freund Said Boutaleb konfrontierten. Olsberg war ein attraktiver, frühreif wirkender junger Mann mit kühlem Charme. Eine merkwürdige Ruhe ging von ihm aus, beinahe so, als befriedige es ihn, geschnappt zu werden. Er gab jede Einzelheit des Tatablaufs zu, weigerte sich jedoch zu sagen, was sein Motiv gewesen sei. Winter hatte die Idee, ihn mit der sechzehnjährigen Schwester des Getöteten zu konfrontieren, die Matthias gut kannte. Die Schwester und die Eltern des Opfers erklärten sich zu dem Experiment bereit. Das Mädchen, Nadia Boutaleb, betrat gefasst und tapfer den Raum, und nun war bei Matthias Olsberg zum ersten Mal so etwas wie Reue oder Scham für seine grausame Tat zu erkennen: Er sah Nadia kurz an, dann drehte er das Gesicht zur Seite.
    «Hier ist jemand, der mit dir reden will», führte Winter das Mädchen ein. Und Nadia sagte mit einer Stimme, die voller Tränen, aber zugleich ungemein stark war: «Warum, verdammte Scheiße, hast du das gemacht?»
    Der Mörder schwieg.
    Nadia ließ sich nicht abwimmeln. «Meine Mutter und mein Vater haben ein Recht drauf, das zu wissen», sagte sie.
    Winter war voller Bewunderung für das Mädchen. Und Matthias Olsberg sah jetzt zu der Stehenden auf. «Ich verrat’s dir», antwortete er. «Aber die» – er deutete auf Winter, den zur Sicherheit anwesenden Vollzugsbeamten und die Schreibkraft – «müssen uns alleine lassen.» Zum Schluss wandte er sich an Winter. «Ich will das nur ihr sagen, verstanden?»
    Winter hätte es unverantwortlich gefunden, Nadia Boutaleb unbeaufsichtigt mit dem Mörder ihres Bruders allein zu lassen, dessen Reaktionen, Pläne und Motive vollkommen undurchsichtig waren. Deshalb stimmte er zwar zu, log aber, als er versprach, sie würden den Raum nicht überwachen lassen. Sie organisierten ein «vertrauliches» Zusammentreffen in einem verwanzten Raum mit einer Kamera, die gut getarnt in einem Aktenregal lauerte. Was auch immer sie so erfuhren, durfte gerichtlich nicht verwertet werden. Aber sie konnten binnen einer Sekunde eingreifen, falls Olsberg der Schwester seines Freundes an die Gurgel ging. Jemandem, der seinem besten Freund mit einem Brotmesser den Hals durchsägte, traute Winter alles zu. Alles.
    Was dann tatsächlich geschah, beobachtete Winter ungläubig in schlechten Videobildern von der Kontrollstation. Olsberg ging auf die Schreibmaschine zu, die, wie damals noch üblich, auf einem der Tische stand, zog ein Blatt ein und begann überraschend

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