Schattenhaus
glaubte, dass Ulli die Idee fernlag. «Wollten wir nicht immer Kinder?», fragte sie. «Gut, es ging um eigene, aber irgendwie haben wir uns nie entschließen können, das mit der Samenbank oder einem Mann wirklich durchzuziehen. Ist es so nicht viel schöner? Diese Kinder brauchen uns, sonst haben sie niemanden. Zwei kleine Mädchen auch noch. Und dann heißen sie mit Nachnamen zufällig so wie ich, und die Familie scheint sogar aus meiner Vogelsberger Heimat zu kommen. Allmenrod, wo die Oma wohnen soll, ist ein Dorf bei Lauterbach.»
Ulli schwieg einen Augenblick, las den Brief ein zweites Mal. Dann lächelte sie verschmitzt.
«Dann müssen wir aber endlich zusammenziehen», sagte sie. «Und heiraten!»
Andrea lachte los, mit Tränen in den Augen. «Klar. Akzeptiert.» Sie kam zu Ulli aufs Sofa, und die beiden nahmen sich in den Arm. Ulli schmatzte Küsse auf Andreas Gesicht. Andreas Treue zu ihrer Sachsenhäuser Anderthalbzimmerwohnung war der einzige Grund, warum die Freundinnen all die Jahre nie zusammengezogen waren. Ulli hatte gedrängt, aber Andrea hatte sich gescheut, eine Wohnung in Bestlage aufzugeben, in der sie als langjährige Mieterin eine extrem günstige Altmiete von 200 Euro kalt genießen durfte. Sobald sie der Wohnung den Rücken gekehrt hätte, würde diese luxusrenoviert und für das Fünffache an irgendeinen Yuppie neu vermietet. Aber jetzt gab es einen doppelten Grund wegzuziehen, und Andrea würde in den sauren Apfel beißen, der plötzlich gar nicht mehr sauer war.
Da fiel ihr etwas ein.
«Sag mal», fragte sie, «ist eigentlich diese große Wohnung in Höchst noch da, die du mir neulich gezeigt hast?»
Jedes Mal, wenn Ulli eine passende Wohnung im Internet sah, versuchte sie, Andrea damit zu locken. Es ging um Eigentumswohnungen; Ulli fand, in ihrem Alter sei es so weit, dass man sich von Vermietern unabhängig machen müsse. Die Höchster Wohnung war ein ganzes Altbau-Dachgeschoss, viereinhalb Zimmer, und nur deshalb für sie beide bezahlbar, weil die Schrägen sehr schräg waren und das Haus direkt an einem abschreckend lauten Verkehrsknotenpunkt am östlichen Ortseingang Höchsts lag. Ulli hatte besichtigt und festgestellt, nach hinten raus war es akzeptabel ruhig, und der Blick ging weit ins Grüne auf die Wörthspitze, den Zusammenfluss von Main und Nidda.
«Die Höchster Wohnung würde natürlich passen», sagte Ulli, «da hätten wir für jedes Kind ein Zimmer. Das brauchen wir, sonst meckert das Jugendamt garantiert. Man kennt das doch aus dem Fernsehen, was für Ansprüche die Jugendämter an Adoptiveltern stellen. Ein Leibliches kann zwar jeder Idiot kriegen, ohne dass er vorher eine Tauglichkeitsprüfung machen muss …»
«Verdammt», fluchte Andrea. «Du hast recht, wir brauchen vier Zimmer. Hoffentlich ist die Höchster Wohnung noch nicht weg. Wenn sie noch da ist, lass uns sofort zuschlagen. Die gefiel mir richtig gut. Ich war sogar zum ersten Mal in Versuchung.»
«Okay», sagte Ulli. «Gib mir den Laptop, und ich sehe nach, während du kochst.» Innerlich beteten sie beide jetzt. So eine Gelegenheit wie diese Wohnung fand sich wahrlich nicht oft.
Minuten später rief Ulli beim Maklerbüro an. Die Wohnung war noch da. Ulli fackelte nicht lange und gab eine mündliche Zusage. Die Maklerin sagte ihr, sie habe jetzt zwei Wochen Zeit, die Finanzierung zu klären. So lange bleibe die Wohnung reserviert.
Die Finanzierung würde kein Problem werden. Ulli verdiente als festangestellte Chemikerin sehr gut, Andrea als freie Web-Entwicklerin leider weitaus schlechter, weshalb sie sich ja stets so gescheut hatte, ihre billige Wohnung zu verlassen. Aber sie beide hatten Ersparnisse, bei Andrea war es ein praller Bausparvertrag, den ihr die Eltern geschenkt hatten. Zusammen konnten sie das stemmen, ohne dass es für Andrea teurer wurde als bisher.
Bevor Ulli ihrer Freundin in die Küche nachfolgte, hob sie Merles Brief vom Tisch auf und drückte einen Kuss auf das Papier. «Danke, du kleine Maus», flüsterte sie. «Schon deshalb werd ich dich liebhaben.»
***
All die Befragungen bei Graftons «Feinden», all die zahllosen kriminaltechnischen Details aus der Villa brachten sie nicht weiter. Und auch bei den Versicherungen bekamen sie nichts heraus. Am Freitagabend beschloss Winter, die Sache jetzt doch auf seine Weise anzugehen. Erstens beantragte er über Nötzel einen Haftbefehl und Durchsuchungsbefehl für Hendrik von Sarnau. Zweitens rief er bei den Eltern von Birthe
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